Müsste ich ein Computer- oder Videospiel der diesjährigen Gamescom nennen, das am meisten gesellschaftspolitische Relevanz inne hat, dann wäre das ohne Zweifel „The Darkest Files“ vom Berliner Indie-Studio Paintbucket Games. Das Entwicklerstudio hat es sich nach eigener Aussage zum Ziel gemacht, „Games zu entwickeln, die relevante Themen fesselnd behandeln und einen bleibenden Eindruck hinterlassen.“ Und diese Agenda wird bislang ziemlich erfolgreich verfolgt: Mit „Through the Darkest of Times“ haben die kreativen Köpfe des Studios 2020 ein beachtliches Debüt geschaffen, das medial recht umfassend rezipiert wurde und zahlreiche Preise einheimsen konnte, u.a. „Bestes Deutsches Spiel“ 2020 beim Deutschen Computerspielpreis.
Reflektionsprozesse durch Perspektivenwechsel
In „Through the Darkest of Times” musste man als Spieler*in beginnend im Jahr 1933 eine zivile Widerstandsgruppe leiten, die sich gegen Adolf Hitler und das Nazi-Regime stellt. Man muss neue loyale Mitstreiter unterschiedlicher Milieus für die Sache rekrutieren, was in einem faschistischen Staat naturgemäß alles andere als einfach ist; man muss Gelder einsammeln, Flyer und Plakate aufhängen, an Protesten teilnehmen und bar jeder Hoffnung mit limitierten Ressourcen haushalten, immer mit der Aussicht, für den Aktionismus festgenommen zu werden. „Through the Darkest of Times“ ist ein Spiel, das Multiperspektivität befördert. Nicht umsonst gibt es im Netz zahlreiche Handreichungen für den Geschichtsunterricht, denn mit seiner thematischen Ausrichtung und seinem Umgang mit Geschichts- und Erinnerungskultur eignet es sich prima, um einnehmende Reflektionsprozesse zur Geschichte in Gang zu setzen.
Antifaschismus ist auch Rechtssache
Nun also zu „The Darkest Files“, dem spirituellen Nachfolger zu „Through the Darkest of Times“, der im Gegensatz zum Vorgänger aber die Nachkriegsgeschichte der BRD aufgreift. Beschäftigt man sich mit der Nachkriegshistorie Deutschlands, insbesondere mit Blick auf die Entnazifizierungspolitik, stößt man als Geschichtsinteressierte Person unweigerlich auf den Namen Fritz Bauer. Sein Wirken als Generalstaatsanwalt in Hessen zwischen 1956 und 1968 ist unmittelbar mit dem Aufbau einer demokratischen Rechtssprechung und der strafrechtlichen Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen verbunden, die mit der Reformierung des Justizapparates an sich einherging. Die Peaks seiner Karriere waren die Frankfurter Ausschwitzprozesse und der Eichmann-Prozess in Jerusalem.
Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich Feindesland
Und hier setzt nun „The Darkest Files“ an: Wir schlüpfen in die Rolle der jungen, vermutlich jüdischstämmigen Staatsanwältin Esther Katz, einer fiktionalen Person, die aber für die hessische Staatsanwaltschaft unter Fritz Bauer tätig ist. Dieser hat ein spezielles Team aus jungen Staatsanwälten ins Leben gerufen, die keine Verbindung zu den vorhergehenden NS-Institutionen haben. Wir schreiben das Jahr 1956, der zweite Weltkrieg und Nazi-Deutschland sind somit erst seit 9 Jahren vorbei. In der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft wird der Holocaust nur bedingt aufgearbeitet: Die bürgerliche Bevölkerung flüchtet sich nach dem Krieg in ein Opfer-Narrativ, das Trauma der Trümmergesellschaft wiegt schwer, oder aber die Nazi-Vergangenheit und die zerbombten Landschaften werden popkulturell mit kitschigen Heimat- oder romantisierenden Soldatenfilmen verdrängt. In den Familien wird über die Nazi-Vergangenheit oder zumindest das Mitläufertum der eigenen Verwandtschaft konsequent tabuisiert. In diesem Klima der Verdrängung und des Schweigens ist es nur natürlich, dass ehemalige hochrangige Nazi-Amtsträger in der Post-WW2-BRD zurück auf ihre Posten kommen und ungesühnt walten dürfen.
Und in diesem Klima der Verdrängung und des Schweigens ist es auch nur natürlich, dass jemand wie Fritz Bauer vom Feindesland außerhalb der eigenen Büroräumlichkeiten spricht. Denn naturgemäß liegt es nicht im Interesse der Betroffenen, „alte Wunden“ wieder aufzureißen.
Erschwerend sind wir als junge, und dann auch noch weibliche Esther Katz immer wieder auch sexistischen Kommentaren der männlichen Zeitgenossen ausgesetzt: Dass ein Kollege unsere Kompetenz als Anwältin in Frage stellt oder wir immer wieder auf unsere „optischen Reize“ angesprochen werden, passt zum Zeitgeist der 1950er, wo der Machismo deutscher Herrenkultur noch überaus salonfähig war (und bis heute überlebt hat).
Die Fälle, mit denen wir uns auseinandersetzen, sind anfangs (scheinbar) noch als klassisches Täter-Opfer Whodunit konzipiert, werden aber im Laufe der Haupthandlung stärker miteinander verwoben.
Die finstersten Akten
Die grundsätzliche Spielmechanik mutet gewissermaßen wie ein geerdeteres Ace Attorney an – Paintbucket beschreibt The Darkest Files als „historisches Ermittlungs- und Gerichtsspiel“, das Ganze hat aber auch einen starken Visual Novel-Charakter:
Wir durchforsten Akten, sprechen mit Zeugen, tauchen in deren mitunter unglaubwürdige Erinnerungen hinein, versuchen Widersprüche und Ungereimtheiten aufzudecken und versuchen die Fälle so zu rekonstruieren.
In der englischsprachigen, aber mittlerweile mit deutschen Texten versehenen Gamescom Demo zeigte mir Paintbucket-Mitbegründer und Creative Director Jörg Friedrich einen Fall, bei dem ein älterer Herr namens Hans Naumann kurz vor Kriegsende erschossen wurde. Die Witwe des Mannes wirft vor, die zwei Uniformierte hätten ihren 77-jährigen Mann – ohne Grund – abgeführt. Während der Erzählung der Ehegattin stellt sich heraus, dass die Uniformierten es eigentlich auf den gemeinsamen Sohn abgesehen hatten. Würde dieser sich stellen, würden sie ihn gehen lassen. Doch offenbar wurde der unschuldige Mann schlussendlich sinnlos ermordet – Die Männer gilt es nun vor der Justiz zu verantworten.
Der erste Fall
Nach einer kurzen Einführung in die Menüführung, können wir uns die Fallakten anschauen: Vier Tatverdächtige gibt es, die mit dem Gewaltverbrechen in Verbindung stehen und ausgesagt haben, dass der Mann ob seines Hochverrats rechtmäßig hingerichtet worden ist. Nun wissen wir aber laut Zeugenaussage von Frau Naumann, dass nur zwei Personen ihn abgeholt hatten, einer davon wurde „als der Kleine“ bezeichnet. Wir müssen also konkrete Täter benennen können.
Aus den Akten geht hervor, dass einer der Tatverdächtigen, Herbert Schwarz, Gruppenleiter einer Ortsgruppe, aktiv aussagt, den Hinrichtungsbefehl gegeben zu haben, da Hans Naumann als Aufständischer einer Kommunistischen Gruppe galt. Er soll an einer Fahnenstange heraufgeklettert worden sein, die Fahne heruntergerissen haben und einen Blockwart verprügelt haben. Die Strafverfolgung der ursprünglich schon 1947 aufgegebenen Anzeige wurde auf dieser Grundlage eingestellt. Nun scheint es aber unwahrscheinlich, dass ein 77-jähriger Mann dazu in der Lage sei. Unsere erste Amtshandlung ist ein Verhör mit dem recht unangenehmen Hermann Kiebitz, der beschwört, nicht unter den zwei Uniformierten gewesen zu sein, sondern stattdessen im Auto gesessen zu haben. Ab dem Zeitpunkt kann man mit den Erinnerungen bzw. Aussagen der Verhörten interagieren, und via HUD-Option auch Zugriffe auf die involvierten Personen erlangen. In diesen Sequenzen können wir in der Rekonstruktion ausmachen, wer vermeintlich was gesagt haben soll, in dem Fall, der Hinrichtungsbefehl, der durch Schwarz ausgesprochen wurde – und bei dem sich Kiebitz vermeintlich unwohl gefühlt haben soll. Selbiges gilt seiner Aussage nach für den weiteren Tatverdächtigen Faltmann. Man muss den schriftlichen Befehl heraussuchen, auf den sich die Erzählung bezieht.
„Ein bisschen wie Cluedo“
Im zweiten Schritt, nach dem Verhör, können wir den Tatverlauf unter Beantwortung verschiedener Leitfragen an der Pinnwand bzw. am Investigation Board rekonstruieren oder vielmehr eine Hypothese über den Tatverlauf aufstellen.
Da sehen wir einen Grundriss und können die involvierten Parteien positionieren. Jede Positionierung muss eine der Leitfragen beantworten. In der Gamescom-Demo war nur die Beantwortung der ersten Frage notwendig, der Rest war optional.
Jörg sagte mir hier, dass einige der Testspieler*innen gemeint hätten, dieses Spielelement erinnere sie „ein bisschen an Cluedo“ und das passt wohl ganz gut. Auch aktuelle analoge Detektivspiele wie die Hidden Games-Reihe arbeiten mit diesem Konzept. Schlussendlich geht man mit dieser Ausrüstung vor Gericht und muss die Theorie anhand der Beweise, Akten und Zeugenaussagen, schlüssig darlegen.
Interessant ist, dass man mit einer falschen Hypothese recht weit kommt und erst vor Gericht (vermutlich) scheitern wird. Hier muss geschaut werden, wie sehr das Spiel Lösungsansätze zulässt, die ein bisschen out-of-the-box sind und die sich vielleicht auch ein wenig ambivalenter anfühlen und wo auch einem potentiellen Scheitern Dringlichkeit verliehen wird.
Die Fälle haben einen realen geschichtlichen Hintergrund, sind für das Spiel aber fiktionalisiert. Die Namen wurden weitgehend verändert: Fritz Bauer bleibt die historisch „echte“ Konstante. Interessant ist für mich, wie die realen Karrierehöhepunkte von Bauer – also die Auslieferung Adolf Eichmanns und die Frankfurter Ausschwitzprozesse – in das Spiel implementiert werden.
Hübsches Art Design
Auch bemerkenswert ist der grafische Stil des Spiels – Through the Darkest of Times war optisch noch ein wenig spröde geraten. Hier passt die stilisierte Optik aber durchweg zum Geschehen, denn die Graphic Novel-artige Gestaltung ist mit Halbton-Effekten versehen, die an grafische Erzeugnisse (Comics und Zeitungen) aus den 1940ern und 1950ern erinnern. Das heißt: Schattierungen und Lichtverhältnisse werden über „ausfransende“ virtuelle Rasterpunkte realisiert. Alles wird über unterschiedliche Blau- und Graustufen geregelt, die an die frühen Comics erinnern, die mit nur vier Farben auskommen mussten. Dadurch erhält The Darkest Files einen sehr uniquen Style.
Vorläufiges Fazit:
Ich bin sehr gespannt auf „The Darkest Files“ und bin mir sicher, dass das Spiel erzählerisch und inhaltlich gerade in diesen Zeiten, wo es einen spürbaren Rechtsruck zu vernehmen gibt, ein enorm wichtiger Titel sein wird. Ursprünglich wurde für The Darkest Files ein Release angepeilt, der noch dieses Jahr hätte stattfinden sollen. Nun aber ist der Titel auf 2024 angesetzt. Die Thematik, nicht ganz leicht verdaulich, wird auf eine Weise erzählt, die den Perspektivenwechsel befördert und nicht nur Naziverbrechen aufarbeitet, sondern auch innerdeutsche Haltungen der Nachkriegsjahre offenbart. Ich bin mir sicher, dass das Spiel allein dadurch didaktischen Mehrwert hat – Die Spielmechanik erinnert in groben Zügen an CAPCOMs Ace Attorney: Als Esther Katz untersuchen wir im Team des historisch realen Staatsanwalts Fritz Bauer Dokumente und Beweismittel, befragen Zeugen, stellen Hypothesen zu Tatverläufen auf und müssen unsere Beweisführung vor Gericht argumentativ darlegen, um die Kriegsverbrechen zu ahnden. In der Gamescom Fassung ist das noch als klassisches Whodunit angelegt. Ich hoffe aber, dass die Fälle dann in der finalen Fassung stärker miteinander vernetzt sind. Auch würde ich mir vom fertigen Spiel wünschen, dass die Investigation Lösungswege erlaubt, die nicht ganz dem Standard folgen und die das „kreative Vorgehen“ eventuell sogar inhaltlich belohnt. Ich freue mich drauf!
Wer Interesse am Spiel hat: Die ursprünglich temporär für das Steam Next Fest veröffentlichte Demo ist bei Steam online geblieben und kann heruntergeladen und gespielt werden. Der Gamescom Build soll sich dahingehend nicht wesentlich unterscheiden. Die Demo findet ihr hier: Klick
Ansonsten gibt es von Paintbucket Games die Visual Novel Forced Abroad – Tages eines Zwangsarbeiters kostenlos für Android und IOS-Geräte: Klick (Android) und Klick (IOS)