Game Review: Lost Records: Bloom & Rage – Tape 1: Bloom für Xbox Series S|X – Ist Lost Records mittlerweile das bessere Life is Strange?

Die beliebte Life is Strange-Marke von Square Enix ist im Ursprung das geistige Kind des französischen Studios DONTNOD. Die haben mit dem narrativen Abenteuer Mitte der 2010er Jahre das Feld der indiesken Coming-of-Age Videospiele erschlossen, das vor allem jetzt mit kommenden Spielen wie Mixtape und dem hier besprochenen Lost Records stark beackert wird.

Es ist aber auch irgendwo klar: Mit der Nostalgie und dem romantisierenden Blick auf die universell gültige Teenage Angst hat man einen Fuß in der Tür sowohl bei Millenials, als auch bei jüngeren Generationen. Mit Chloe Price und Max Caulfield hat man darüber hinaus nachvollziehbare Charaktere geschaffen, die queer gelesen werden können und mit denen man sich durch und durch identifizieren kann. Es ist kaum verwunderlich, dass im Nachgang entsprechende Cosplays zu fast jeder Con dazugehörten. In der Zwischenzeit hat das amerikanische Studio Deck Nine die Marke übernommen, zunächst für ein Prequel (Before the Storm), dann auch für die Hauptteile (True Colors). Zuletzt gab es mit Double Exposure eine Art Comeback für Max Caulfield, das aber eher schlecht ankam. Wir selbst haben dem Ganzen aufgrund Schwächen im überfrachteten Storytelling noch eine 6.8 verliehen (Review hier), bei den Spieler*innen kam das Spiel aber im Endeffekt gar nicht gut an. Es wurde zum Flop und Deck Nine mussten zahlreiche Mitarbeiter*innen in Folge entlassen. Ein Grund dürfte u.a. sein, dass Deck Nine im Gegensatz zu ihren französischen Kolleg*innen nicht ganz das sensible Händchen für gutgeschriebene Charaktere haben.

Und hier kommen wieder DONTNOD ins Spiel: Die haben jüngst mit Lost Records – Bloom & Rage ein ähnlich geartetes Spiel entwickelt, das die episodische Struktur der originalen LiS Spiele beibehält und in zwei Teilen eine Geschichte erzählt, die inmitten der 1990er Jahren verankert ist – in einer Zeit vor Social Media, vor dem allgegenwärtigen Internet und wo Freundschaften noch von physischer Präsenz gekennzeichnet waren. In gewisser Weise erinnert Lost Records damit an die wehmütig nostalgische und queere Generation X-Version des filmischen Evergreens Stand By Me – Das Geheimnis eines Sommers.

Wir haben uns die erste Episode, die als Tape 1 bezeichnet wird, näher angeschaut, und verraten euch, ob DONTNOD die emotionale Lücke stopfen, die Deck Nine mit Life is Strange nicht mehr zu füllen im Stande war. Die zweite Episode wiederum erscheint am 15. April 2025. Auch dann folgt eine separate Review.

Vielen Dank an Rocky Oceans Communication und DONTNOD für die Bereitstellung des Keys.

Riot Grrrls oder der Club der Verliererinnen

Die Stand By Me-Referenz ist übrigens ein guter Aufhänger. Rob Reiners sommerlicher Coming-of-Age Film basierte auf der Stephen King Kurzgeschichte „The Body“ – und tatsächlich dürften sich DONTNOD bei der Erzählung von Lost Records mehr als eine Scheibe bei King abgeschnitten haben. Das fängt bei den Zeitsprüngen an, die ähnlich konzipiert sind wie bei den Romanen ES oder DUDDITS: Dreamcatcher  – Lost Records spielt sich nämlich zwischen Kindheitserinnerungen und Erwachsenen-Alltag ab: Tape 1 beginnt nicht etwa im Sommer 1995, sondern in der gegenwärtigen Zeit – im Jahr 2022 – also zwei Jahre nach der Covid-19 Pandemie, die hier in all ihrer Konsequenz thematisiert wird.

Lost Records: Bloom & Rage setzt im Jahr 2022 an - mitten in der Covid 19 Pandemie - Unsere alte Freundin Autumn kontaktiert uns, nachdem sie eine mysteriöse Briefsendung erhalten hat, die ein dunkles Geheimnis birgt © DONTNOD

Lost Records: Bloom & Rage setzt im Jahr 2022 an – mitten in der Covid 19 Pandemie – Unsere alte Freundin Autumn kontaktiert uns, nachdem sie eine mysteriöse Briefsendung erhalten hat, die ein dunkles Geheimnis birgt © DONTNOD

Wir schlüpfen in die Rolle der Hauptprotagonistin Swann Holloway, die wir zunächst aus der Ego-Perspektive spielen. Sie ist zu Beginn 43, lebt in Kanada und bis zum Ende von Tape 1 bekommen wir die erwachsene Swann auch nicht weiter zu Gesicht. Wir befinden uns in Velvet Cove, Michigan – dem Ort unserer Kindheit – an welchen wir nach langen 27 Jahren zurückgekehrt sind, um uns mit alten Freunden zu treffen. Natürlich in einer urigen Kneipe, dem „Blue Spruce“. Es geht um ein Versprechen aus unserer Jugend, um ein offenkundig dunkles Geheimnis, und bald tauchen auch schon unsere alten Freundinnen Autumn und Nora auf – Menschen, die wir seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben, obwohl sie in diesem schicksalsträchtigen Sommer unsere wichtigsten Bezugspersonen waren. Nach melancholisch-wehmütigem Catch-Up ist es zunächst Autumn Lockhart, mittlerweile Sozialarbeiterin Atlanta, die auf das eigentliche Anliegen unserer Zusammenkunft hinlenkt.

Denn sie hat uns, Nora und Swann, kontaktiert, weil sie von einem mysteriösen Unbekannten ein Paket erhalten hat. Dieses Paket war an „Bloom & Rage“ adressiert – die gemeinsame Riot Grrrl Punkband, welche die drei bzw. vier Freundinnen im Sommer 1995 gegründet haben. Und damit beginnt der große Rückblick in die Vergangenheit der Mädchenclique – eine Vergangenheit, die immerhin dazu geführt hat, dass die drei bzw. vier in all den Jahren kein Wort mehr miteinander sprachen und vollkommen getrennte Wege gingen.

Juni 1995: Die 16-jährige Swann ist eine freundliche, aber manchmal etwas kauzige Eigenbrötlerin, die nichts mehr liebt, als sich mit ihrem Camcorder draußen rumzutreiben und ihre Umwelt, vor allem die tierische, auf Videokassette zu bannen. Da sie kurz davor ist, mit ihren Eltern nach Vancouver umzuziehen, will die Hobby-Filmerin Memoiren zu Velvet Cove schaffen. Als der Filmnerd just die lokale Videothek aufsucht, nur um sie geschlossen vorzufinden, lernt sie eher zaghaft und bisschen awkward Autumn und ihre beste Freundin Nora Malakian kennen. Autumn arbeitet an einem Softeisstand, den sie just im Begriff ist zu schließen.

Hier gerät Swann mit der jungen Dylan Mikaelsen und ihrem Freund, dem Halbstarken Corey Litchfield, aneinander, als Dylan sich vermeintlich beobachtet und von der Cam aufgenommen fühlt. Swann, die nicht sonderlich schlagkräftig ist, kann der Aggression der beiden wenig entgegensetzen. Glücklicherweise eilen ihr nicht nur Nora und Autumn zur Hilfe, sondern auch die toughe Kat – Dylans jüngere Schwester. Aus diesem Ereignis soll eine tiefgehende Freundschaft entstehen – die nur für diesen einen Sommer anhält, aber scheinbar für die Ewigkeit prägt.

Bloom: Behäbiges Storytelling, das aber scheinbar die Weichen für das verhängnisvolle „Rage“ setzt

Ohne nun zu viel spoilern zu wollen: Die komplette erste Episode mit ihren ca. 5-6 Stunden Spielzeit setzt zwar den Ton für Lost Records, bleibt aber weitgehend noch ohne Spannungs-Spitzen.

Während ein Life is Strange die Mystery-Komponente mit der Zeitspul-Mechanik von Protagonistin Max direkt zu Beginn offengelegt hat, und auch unmittelbar am Anfang eine nervenaufreibende Hook gesetzt wurde, erzählt ein Lost Records: Bloom & Rage Tape 1 deutlich langsamer und ausufernder.

Die Bloom-Episode ist so sehr Slice-of-Life, wie sie nur sein kann – sowohl im Erwachsenen-Alter, wo wir in der Kneipe erzählte Ausschnitte aus den Leben unserer immer noch guten, aber irgendwie doch entfremdeten Freundinnen mitbekommen – das brachliegende Dating-Leben der mittlerweile geschiedenen Mutter und Sozialarbeiterin Autumn etwa, oder dass die extrovertierte Nora mittlerweile eine erfolgreiche Fashion-Influencerin in Los Angeles ist – aber auch die Jugend-Episoden in den 1990ern sind eine Ansammlung von Ereignissen und Erinnerungen. Unser erstmaliges Zusammentreffen mit unseren späteren Freundinnen an der geschlossenen Videothek, das erste gemeinsame Proberaum-Set der eigenen Amateur Punk-Band in der Garage, die unbeholfenen Versuche, mit dem Camcorder im Wald ein vernünftiges Musikvideo aufzunehmen, aber auch die Inbeschlagnahme eines alten Lost Places im Wald, das wir zu unserem eigenen, privaten Clubhaus umfunktionieren.

Die erste Episode Tape 1: Bloom ist so sehr Slice-of-Life, wie sie nur sein kann - eine Sammlung von Alltagsanekdoten. Immer dabei: Unser Videorekorder - hier nehmen wir unsere Band Bloom & Rage auf © DONTNOD

Die erste Episode Tape 1: Bloom ist so sehr Slice-of-Life, wie sie nur sein kann – eine Sammlung von Alltagsanekdoten. Immer dabei: Unser Videorekorder – hier nehmen wir unsere Band Bloom & Rage auf © DONTNOD

Das alles begleitet von ersten romantischen Annäherungen, von Stress mit der Familie, von jugendlichem Rumgeblödel und ersten Experimenten mit Gras. Die einzigen richtigen Antagonist*innen hier scheinen die nervige Schwester Dylan und ihr fieser Freund Corey zu sein.  Ansonsten aber ist das Leben nicht strange, sondern einfach schön – so scheint es jedenfalls an der Oberfläche.

Die rurale (Un)ruhe des kleinen Städtchens Velvet Cove wirkt Working Class-mäßiger und geerdeter als das doch eher idyllische Arcadia Bay in Life is Strange. Nicht zuletzt dadurch wirkt Lost Records wesentlich organischer und natürlicher als der ursprüngliche Blaupausen-Lieferant. Hier wird aber einem auch schmerzlich bewusst, dass DONTNOD die wesentlich talentierteren Storyteller sind. Denn die ungeschliffenen Dialoge hier wirken in ihrer natürlichen Jugendlichkeit manchmal zwar fremdschämig, aber eben absolut authentisch und nachvollziehbar. In Double Exposure hatte ich irgendwie ein Problem mit der Art der erwachsenen Max Caulfield, die einerseits als preisgekrönte Fotografin und Dozentin einer renommierten Hochschule präsentiert wurde, gleichzeitig aber genauso weird und unbeholfen agierte, als wäre sie immer noch 16. Und auch bei True Colors hatte ich öfter das Gefühl, dass das Young Adult-Leben nur allzu formelhaft dargestellt wird.

Kat ist tough, aber irgendwas ist nicht ganz in Ordnung – ihre Geschichte wird vermutlich in Tape 2 noch weiter vertieft © DONTNOD

Wäre Lost Records ein 1990er Live Action Film mit echten Darsteller*innen, ich hätte Dialogführung und Inszenierung nicht hinterfragt. Die abgerungene Authentizität gibt mir ähnliche fiktionalisiert-realistische Vibes wie die Filme von Richard Linklater – hier seien etwa Dazed and Confused und Boyhood genannt.

Ich hoffe inständig, dass die Spieler*innen das zu würdigen wissen: Denn ich halte Lost Records bislang für erzählerisch äußerst stark. Die Langsamkeit der Erzählung wird nicht alle abholen, aber sie setzt ein tiefgehendes Fundament für einen äußerst mitnehmenden und emotional aufwühlenden zweiten Teil. Denn Rage wird, einzelne geheimnisvoll-düstere Momente und ein starker Cliffhanger in Bloom lassen es erahnen, deutlich düsterer, zorniger, trauriger und vielleicht auch gruseliger werden. Auch die USK-Einstufung lässt darauf schließen.

All die kleinen Entscheidungen, die wir treffen und all die parasozialen Bindungen zu unseren Freundinnen und ein über allem schwillendes Geheimnis werden sich hoffentlich in einer hoffentlich starken zweiten Episode entladen. Vielleicht werden dann aber auch einige Punkte angesprochen, die mir während des Spieldurchgangs durch den Kopf gegangen sind: Denn wo sind die anderen Kids von Velvet Cove hin? Was ist mit der Schule, hat die keinerlei Stellenwert für unsere vier Heldinnen? Ist das Ganze bloß eine isolierte, „geschönte“ Erinnerung? Ich denke hingegen, dass die Mikaelsens, also Kats christlich-fundamentalistisches, konservatives Elternhaus, eine wesentlich zentralere Rolle in der zweiten Episode einnehmen wird … und bin sehr gespannt!

Artefakte, Entscheidungen und eine Kompilation unserer Memoiren

Das Gameplay wird Life is Strange-typisch von der Narrative dominiert: Das heißt, wir spielen hier tendenziell einen interaktiven Film, der von unseren Entscheidungen getragen wird.

Trotz der Zeitsprünge scheint der sich 1995 abspielende Handlungsstrang linear angeordnet zu sein. ABER: Die Art, wie wir handeln oder wie wir auf unsere Mitmenschen reagieren, wird Konsequenzen nach sich ziehen – bisher konnte ich noch nicht so richtig vernehmen, wie sehr unsere Bindung zu Kat, Autumn und Nora oder einzelne Entscheidungen tatsächliche Auswirkungen auf den Handlungsverlauf haben. Das Spiel vermittelt aber, dass die Entscheidungen erhebliche Auswirkungen auf die zweite Episode haben werden. In dem Moment unserer Entscheidung wird unten rechts ein aufkeimende Pflänzchen (ganz im Sinne des „Bloom“-Gedanken) angezeigt, das sich erst im „Rage“-Teil voll manifestieren wird.

Während in Life is Strange immer eine übernatürliche Fähigkeit zentraler Teil des Gamedesigns war – Life is Strange arbeitete mit der Zeitspul-Mechanik, LiS: Double Exposure mit den Zeitlinien paralleler Dimensionen, in LiS: True Colors konnte Alex Emotionen ihrer Mitmenschen lesen und manipulieren – verzichtet Lost Records zum jetzigen Zeitpunkt vollkommen auf derlei Gameplay-Mechaniken und ordnet sich komplett der Handlung und den Figuren unter.

Die unique Mechanik von Lost Records, die sich im Ansatz aber schon bei den Max Caulfield-fokussierten Life is Strange-Spielen finden lässt, ist das Camcorder-Feature. Wir können unsere Umgebung nach interessanten Motiven scannen und kleine Videofragmente aufnehmen, die wir dann später unter fixen Kategorien zu Teilen unserer Memoiren kompilieren können. Hier können wir die Videoschnipsel mit basalem Videoschnitt remixen und dann kleine VHS-artige Flicks zusammenstellen. Die Videocamcorder-Funktion hat weitgehend keine bzw. nur selten spielmechanische Verknüpfung mit der Haupthandlung. Ob wir nun 15 verschiedene Vogelarten im Wald aufnehmen und daraus einen Clip in die Filmothek aufnehmen bleibt gänzlich uns überlassen.

So richtig düster wird es in Tape 1 selten, aber die Gruseleinlagen im Wald liefern einen kleinen Hint auf die düstere Seite in Tape 2: Rage © DONTNOD

So richtig düster wird es in Tape 1 selten, aber die Gruseleinlagen im Wald liefern einen kleinen Hint auf die düstere Seite in Tape 2: Rage © DONTNOD

Hier könnte man kritisieren, dass die Cam-Funktion das Pacing des behäbigen und aufgeregten Gameplays bricht. Als Komplettist*in neigt man der Fomo wegen dazu, jedes Memoir zu vervollständigen. Gleichzeitig ist man aber zumeist in der Gruppe unterwegs. Es bricht ein wenig die Immersion, dass da reale Personen und nicht bloß NPCs hinter Autumn, Nora und Kat stecken, wenn sie ohne Dialogzeile auf einen warten müssen, während man im Grunde bloß Video-Collectibles hinterherjagt. Hier könnte man das Video-Hobby als Mechanik noch tiefer mit der Charakterzeichnung und dem innerfreundschaftlichen Bindungs-Feature verknüpfen und in dem Sinne auch mit einem zeitlichen Limit belegen.

Dasselbe gilt auch für die „Erinnerungen“ – die man in den adoleszenten Rückblicken immer dann triggert, wenn man einzelne Objekte, die mit dem Marker „Erinnerung“ versehen sind, anklickt. Dann kommentiert die 43-jährige Swann aus der Gegenwart das entsprechende Memento. Auch hier überschneidet sich der retrospektive Gedanke auditiv zu häufig mit den Geschehnissen der Haupthandlung, ohne einen erzählerischen oder spielerischen Mehrwert zu haben. Und auch hier neigt man ob der Fülle zu sehr zum Abklicken.

Abseits dieser kleinen Kritikpunkte gibt es jetzt nicht viel an Lost Records zu beanstanden. Es gibt schlicht zu wenig Gameplay per se, als dass man da etwas kritisieren könnte. Es ist ein interaktiver Film á la Life is Strange, der sich aber in Sachen Gameplay noch mehr der Handlung unterordnet als das Vorbild oder Quantic Dream-Titel wie Detroit: Become Human. Am ehesten vergleichbar dürften hier die Telltale-Games sein. Das muss man naturgemäß mögen – aber die Handlung ist hier definitiv eine vermögende tragende Säule – und man weiß ja in der Regel, worauf man sich bei derlei narrativen Spielen einlässt.

Tolle Optik, Toller Soundtrack, Tolle Sprecher*innen

Vergleicht man Lost Records mit alten DONTNOD Spielen fällt einerseits auf, dass die Franzosen ihrem Artstyle treu geblieben sind. Die Charakterdesigns wirken organischer und weniger stilisiert als bei Life is Strange, eine Kat Mikaelsen erinnert aber nichtsdestotrotz (und nicht zuletzt auch wegen dem Namen) an Kate Marsh aus Life is Strange. Waren die DONTNOD Life is Strange-Teile damals optisch zwar von einem spezifischen Indie-Look geprägt, aber konnten mit diesem nicht ganz kaschieren, dass sie technisch eher durchwachsen waren, gibt es hier eine positive Entwicklung zu verzeichnen. Insbesondere die wächsernen Gesichter fand ich seinerzeit etwas schwach.

Hier sind die Gesichter der Figuren aber angenehm expressiv, die Umgebungen strotzen von vielen kleinen und großen Details und insbesondere die Lichtstimmungen sind absolut state-of-the-art. Gerade im Vergleich zu Double Exposure, das nun auch nicht hässlich ist, sieht Lost Records noch eine ganze Ecke hübscher aus. Egal ob es das etwas abgerockte Städtchen ist, die saftigen Wälder, die überquellenden Garagen oder die geheimniskrämerischen Jugendzimmerchen. Alles wirkt lebendig und nahbar. Die grafische Mehrpotenz ergibt sich vermutlich auch aus der Tatsache, dass das Spiel nicht für Nintendo Switch entwickelt wurde.

Hauptprotagonistin Swann ist ein liebenswerter kleiner Weirdo, und durch und durch sympathisch © DONTNOD

Hauptprotagonistin Swann ist ein liebenswerter kleiner Weirdo, und durch und durch sympathisch © DONTNOD

Während Double Exposure noch gravierendere technische Probleme hatte, konnte ich selbiges bei Lost Records bis dato nicht erkennen. Es gibt zwar in Außenbereichen, gerade in den vegetationsreichen Waldarealen, den ein oder anderen vernehmbaren Framedrop, aber nirgendwo derart störend, dass ich es hier weiter ausdifferenzieren würde.

Die Soundtracks der Life is Strange Spiele waren immer ein Highlight, und selbiges gilt auch für Lost Records: Bloom & Rage – Mehr noch: Lizenztechnisch hat man sich hier richtig reingehangen und hochkarätige Tracks inkludiert, wie z.B. Cherry-Coloured Funk von den Cocteau Twins oder Sparks von The Dø. Die Bloom and Rage-Tracks, etwa See You in Hell, wurden von der jungen Gruppe Nora Kelly Band eingespielt.

Ich habe Lost Records in englischer Sprache gespielt. Die Sprecher*innen haben hier sehr gute Arbeit geleistet und alle Charaktere mit ihren Persönlichkeiten gut rübergebracht. Olivia Lepore vertont Swann mit der passenden Mischung aus sich überschlagender Begeisterungsfreude und sozialer Unbeholfenheit. Aber auch die coole und dauerextrovertierte Nora, die gesetzte Autumn oder die kämpferische Kat werden absolut passend vertont. An dieser Stelle also großes Lob.

Fazit:

Die erste Episode eines narrativen Videospiels vermag man vor allem mit Blick auf die Qualität der Erzählung bewerten. Und hier macht Tape 1: Bloom vieles richtig. Die erste Episode nimmt sich viel Zeit für die Charaktere und wagt es noch nicht, das ganz große Geheimnis zu enthüllen. Auch das Mysterium bleibt noch vage unausformuliert. Und das funktioniert für mich hervorragend: Die Dialoge innerhalb der sympathischen Vierer-Clique um Swann, Kat, Autumn und Nora mögen manchmal cringy sein, aber sie wirken extrem natürlich. Die Gruppendynamik ist nahbar und authentisch und die Darstellung der 1990er wirkt hier keinesfalls übertrieben. Auch die Sequenzen im Jahre 2022 mit den erwachsenen Protagonistinnen und dem düsteren Covid-19 Backdrop sind ein gelungener Kniff, mit einer Reflektion über die Glaubwürdigkeit der eigenen Erinnerungen, den man sich vermutlich bei einem Stephen King abgeschaut hat. Audiovisuell ist Lost Records stimmig und auch die Technik ist durchweg solide. Im Moment füllt Lost Records für mich ein wenig die Lücke, die Life is Strange unter Deck Nine-Regie nicht ganz zu füllen imstande ist. Ich bin extrem gespannt auf die zweite Episode, die vermutlich wesentlich düsterer ausfallen wird als das noch sehr Slice-of-Life-lastige erste Tape.

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Lost Records: Bloom & Rage - Tape 1 [Xbox Series S|X]

Grafik / Art Style - 8.1
Story / Inszenierung - 8.8
Technik - 7.3
Umfang - 7.9
Gameplay / Spielspass - 8

8

Lost Records ist authentisch und nahbar und quasi die queere Generation X-Variante von Rob Reiners Stand By Me - Das Geheimnis eines Sommers. Zudem beweisen DONTNOD klar, dass sie die aktuell besseren Schreiber haben als Deck Nine, welche derzeit Life is Strange betreuen.

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