Comic Review: Luc Jacamon & Matz: Der Killer Gesamtausgabe I – Stoisch-unterhaltsamer Neo-Noir in wenig schwarz, und viel beige

Seit heute ist eine lose angelehnte Film-Adaption des französischen Comics „Der Killer“ (im Original 1998 als „Le Tueur“ erschienen) von Autor Alexis „Matz“ Nolent und Zeichner Luc Jacamon auf Netflix verfügbar. Für die hauseigene Produktion mit Michael Fassbender in der Hauptrolle ist niemand geringeres als David Fincher verantwortlich, der nach seinem letzten Werk „Mank“ einen 4-Jahres-Vertrag mit dem Streaming-Giganten abschloss und mit dem gleichnamigen Film einmal mehr einen unterkühlten Blick in die abgründige Welt des Tötens und Getötet-werdens wirft. Über die Film-Umsetzung, offenbar ein Herzens-Projekt, hat Fincher schon vor sieben Jahren gesprochen – bis hierhin ist es wie so oft an der Finanzierung gescheitert. Der Netflix-Deal hat dahingehend also den erhofften Geldregen gebracht. Fincher selbst aber hatte bereits vor einigen Jahren mit Matz zusammengearbeitet. Gemeinsam hatten sie 2016 mit „The Black Dahlia: A Crime Graphic Novel“ den gleichnamigen Krimi von James Ellroy ins Comic-Medium übersetzt. Fincher und Matz teilen also definitiv Vorlieben für das Sujet und für das Medium Comic. Vor einigen Wochen hatte mich der Hamburger Verlag Schreiber & Leser ob des bevorstehenden Film-Releases gefragt, ob eine Berichterstattung über die Comic-Vorlage möglich sei. Und so werfen wir heute einen Blick auf die erste Gesamtausgabe von „Der Killer“, die bereits im Dezember 2019 erschienen ist, und die fünf Auftaktepisoden des namenlosen Auftragsmörders enthält.

„An allen Händen klebt Blut, an meinen ein bisschen mehr“ [SPOILER ALERT]

Der namenlose Protagonist von „Der Killer“ ist ein klassischer Antiheld des Noir Genres – ein wortkarger, nihilistischer, moralisch fragwürdiger Eigenbrötler, der von sich selbst behauptet kein schlechter Mensch zu sein, allerdings eben auch kein sonderlich freundlicher und der von seinen Mitmenschen vor allem in Ruhe gelassen werden möchte. Andere in Ruhe zu lassen ist aber nun eben nicht Teil seines Jobs – stattdessen soll er seinen „Zielobjekten“ gegen hohe Summen den Tod zu bringen, je nach Auftrag in spektakulärer oder eher diskreter Manier. Der unscheinbare Auftragsmörder zeichnet sich durch seine klinisch professionelle Arbeitsweise aus: Gegen eine zumeist sechsstellige, steuerfreie Summe garantiert der Killer „saubere Arbeit, keine Indizien“ und ermöglicht den Auftraggebern ein „todsicheres Alibi“. Porsche und Villa sind für den Killer aber nicht drin – immerhin weckt ein luxuriöser Lebensstil definitiv die unerwünschte Aufmerksamkeit fremder Leute, weshalb er sich seinen ruhigen Rückzugsort in einer entlegenen Ecke Venezuelas erwählt hat, wo die Leute nicht fragen und er bloß als sympathischer, etwas verrückter Gringo durchgeht. Sein selbstgewähltes Ziel für den Ausstieg: 3 Millionen Dollar – danach will er der Branche den Rücken kehren.

Die erste Gesamtausgabe besteht aus fünf zusammenhängenden Kapiteln, die zwar linear angeordnet sind, aber durch viele Rückblenden zu früheren Einsätzen und philosophischen Abschweifungen zum Berufs-„Ethos“ des Protagonisten gebrochen werden. Das erste Kapitel „Querschläger“ dient hier als Exposition – Der Killer soll Martini, den Direktor einer renommierten, und teuren Privat-Klinik ermorden. Die Aufträge verlaufen nach dem immer gleichen Muster – Die Zielperson wird bis ins kleinste Detail studiert, man eignet sich förmlich ein Leben an, das es auszulöschen gilt. Die Tätigkeit erfordert Geduld und ist einsam. Doch bei diesem Auftrag scheint etwas off – Seit 9 Tagen beobachtet er das Apartment in der Rue Chaptal 27 – Das Zielobjekt müsste längst da gewesen sein, das gemietete Liebesnest für die Geliebte bleibt aber seltsam leer. Die Wartezeit wird mit den oben genannten nihilistischen Gedankenkonstrukten gefüllt, da wird auch mal über das Milgram-Experiment oder verschiedene Genozide in der Menschheitsgeschichte als Rechtfertigung für das eigene Tun schwadroniert, und liefert den Leser:innen ein Profil über den sonst unnahbaren Charakter. Wir lernen seine Vergangenheit kennen: Dass er früher sogar Student der Rechtswissenschaften gewesen ist, dass er den ersten noch recht primitiven Auftrag von einer Liebschaft bekommen hat, später auch, dass sein dozierender Professor Edouard zu seinem Mentor und Auftragsvermittler avanciert ist. Das Ende der ersten Episode mündet in einer Katastrophe: In einer Kurzschluss-Reaktion verfehlt der Killer sein Ziel und trifft eine andere (undschuldige) Person. Die Situation eskaliert und es kommt zu einem regelrechten Massaker. Ein erstes Indiz dafür, dass die mechanisch kalkulierte Lage für den Killer langsam aus den Fugen gerät.

Der_Killer_Vergangenheit

In zumeist ruhig erzählten Rückblenden erfahren wir auch etwas über die Vergangenheit des misanthropischen Antihelden @ Matz & Jacamon
@ Schreiber & Leser

In den nachfolgenden Kapiteln werden zentrale Tropen des Noir-Genres abgearbeitet: Da werden Feinde zu Freunden, Freunde zu Feinden, es müssen Schulden beglichen werden. Mit dem Querschläger hat der Killer offenbar etwas ins Rollen gebracht. Denn ein Franzose, offenbar ein Agent, hat in Venezuela nach ihm gesucht – Er beschließt als Konsequenz vorzeitig auszusteigen, was natürlich alles andere als einfach ist. Bevor Edouard ihm sein Geld vermeintlich auszuhändigen gedenkt, bietet er ihm noch einen letzten Auftrag: Er soll sich langsam in das Leben eines Mannes namens Alain schleichen; Doch wie unserem Antihelden langsam dämmert, scheint dieser Mann ebenfalls mit dem Auftrag versehen worden zu sein ihn auszuschalten. Offenbar hat Edouard ihm eine Falle stellen wollen, einerseits weil die Kunden, mächtige Männer, durch den anfänglichen Patzer verunsichert worden sind, andererseits weil Edouard dem Killer eine große Stange Geld schuldet.

Doch das Ableben von Dr. Martini hat eine weitere Kette von Ereignissen in Gang gesetzt: Der getötete Klinikdirektor war offenbar ein hochkarätiger Substanzen-Vertriebler, der unter der Fuchtel der Kolumbianer stand. Diese fordern vom Auftragsmörder nun eine vermeintliche Schuld ein – er solle nun für sie töten, um diese abzuarbeiten. Mariano, der Neffe eines kolumbianischen Patriarchen, soll gleichermaßen beim Killer in die Lehre gehen. Nach anfänglichem Widerwillen entsteht zwischen dem schweigsamen Protagonisten und dem geschwätzigen Dealer-Spross eine unterhaltsame Bromance.

Während man dem Killer weiterhin nach dem Leben trachtet – hinter Martini und seinen gesellschaftlich ebenfalls hochrespektablen Mitstreitern Jouen und Biscay steht ein mächtiger Mann namens Henri Worms, der die Strippen zieht – versammelt dieser neben Mariano eine illustre Leute an Leuten um sich, die sich langsam aber beständig sowohl auf freundschaftlicher, wie auch romantischer Ebene in sein Leben schleichen, oder wie er es selbst an einer Stelle formuliert: „Ein freundlicher kolumbianischer Dealer, ein verschwiegenes Mädchen, ein suspendierter Bulle, nicht gerade die beste Mannschaft, um meine Karre aus dem Dreck zu ziehen.“

Behäbige Erzählweise mit zugespitzten Spannungsmomenten

Die Erzählweise von Der Killer ist ruhig – gerade die Momente der Vorbereitung für einen Job wirken wie ein behäbiges, routiniertes Auf- und Abatmen – und dabei durch das monologische Element sehr introspektiv. Gleichermaßen gibt es immer wieder Gewalt- und Suspense-Höhepunkte, die den professionellen Trott des Killers durchbrechen und die zumeist das Finale eines Kapitels markieren: Das gescheiterte Attentat zu Beginn, ein Überfall auf die Geliebte, eine Verhör- und Foltersequenz –

Der Killer erfindet zu keinem Zeitpunkt das Rad neu: Es ist eine klassische Hardboiled-Fingerübung, die Versatzstücke des Noir-Genres sehr filmisch arrangiert. 1998 dürfte das noch State-of-the-Art gewesen sein, wenngleich auch da schon ein Luc Besson längst ein Léon – Der Profi auf die Leinwände gebracht hat, und wenngleich im selben Jahr Road to Perdition von Max Allan Collins, und mit der ebenfalls im ähnlichen Zeitraum erschienenen Torpedo-Reihe weitere Comics mit Serienkiller-Sujet entstanden sind. Mittlerweile kommt man nicht umhin, sich auch an moderne Neo Noir-Actioner wie John Wick erinnert zu fühlen: Es geht weniger um die Handlung an sich, als vielmehr darum, was für ein Feedback-Loop sich aus den Handlungen des Auftragsmörders entspinnt. Die inneren Monologe mit ihrem tiefschwarzen Zynismus erinnern an die Zwischensequenzen von Remedys Max Payne-Reihe. Man merkt, dass Matz später auch Drehbücher für Videospiele geschrieben haben könnte.

Der_Killer_Gewaltspitze

Immer wieder gibt es auch punktuelle Gewaltspitzen @ Matz & Jacamon
@ Schreiber & Leser

Die Figuren sind nicht sonderlich fein gezeichnet, sondern bilden vielmehr schablonenhafte Archetypen des Genres ab: Harte Hunde mit schwerem Los, exotisch anmutende Frauen mit viel Sex Appeal und schmierige Strippenzieher. Zwar stützt sich das Writing ein bisschen zu sehr auf innovationslosen Genre-Trademarks mit zu viel nihilistischem Geplänkel, Pacing und Dramaturgie sind dann aber clever genug arrangiert, als dass keine Längen auftreten. Ich habe mich recht fix durch die knapp 300 Seiten gelesen und dabei summa summarum gut unterhalten gefühlt.

In Kritiken zur Fincher-Umsetzung habe ich bereits gelesen, dass David Fincher die Vorlage durchaus auch dafür nutzt, das mitunter stark romantisierte Auftragskiller-Sujet zu dekonstruieren. Das finde ich durchaus spannend, weil ich diesen Ansatz in der Comic-Vorlage nicht gesehen habe. Die filmische Umsetzung scheint also durchaus smarter zu sein als der pulpige Comic.

Toller künstlerischer Stil zwischen „Ligne Claire“ und einem arty Look

Der Killer Gesamtausgabe 1 Unterwasser

Sobald der namenlose Protagonist auf vergangene Einsätze verweist, öffnen sich Bilder und Farbgebung @ Matz & Jacamon
@ Schreiber & Leser

Luc Jacamon war 1998, als der erste Band von Le Tueur erschien, ein absoluter Newcomer im Bereich des Comic-Schaffens. Zwar ist er seit den 1980ern im illustratorischen Metier tätig gewesen, „Der Killer“ war aber seine erste große Arbeit im Comic-Bereich. Umso beeindruckender ist es, was er hier geschaffen hat. In der Gesamtausgabe gibt es eine Art „Nachwort“, wo geschrieben steht, dass Jacamon bei Der Killer sich zwischen „Ligne Claire“ und dem künstlerischen Strich bewege. Und das trifft es ganz gut: Während die Figurendesigns klar in der franko belgischen Tradition der „Ligne Claire“ eines Hergé stehen und mit klar definierten Proportionen zwischen abgerundet, grazil und kantig auskommen, nutzt er für die Bildkompositionen und Farbgebungen viel ausladendere, opulentere Dynamiken, die ziemlich cineastisch, mitunter spektakulär wirken. Dabei oszilliert Jacamon auch zwischen reduzierten und richtig gehaltvollen Momenten. Weitgehend ist die Bildsprache analog zur Erzählweise ruhig gehalten – die introspektiven Momente werden von vielen Close-Ups begleitet: Sobald es aber um den eigentlichen Auftrag geht, öffnet sich der Comic und wird larger than life. Das lässt sich auch an der Farbgebung beobachten: In den ruhigen Momenten bleibt Der Killer häufig in gesetzten Farben verhaftet, die irgendwie „stehend“ wirken: Ganz viel beige, ganz viel olivgrün oder pastellig-blaue Farbtöne – das große „mehr“ gibt es dann auch in den punktuellen Action-Sequenzen, die das Tempo dann immer wieder schlagartig erhöhen, mit dynamischeren Panelanordnungen mitziehen und nicht selten in Gewaltspitzen kulminieren, die sich aber entgegen des Sujets nicht in splattrigen Momenten verlieren. Sobald der namenlose Killer von seinem Kopf oder brenzligen Situationen zu überwältigt werden droht, bebildert Jacamon die internen Konflikte mit visuellen Fragmentierungen. Auch das ist cineastische Bildsprache, bei der ich gut verstehen kann, dass ein Fincher daran Gefallen findet. Letztlich bleibt zu sagen, dass Bilder und Erzählung vor allem tempo-mäßig gut miteinander korrespondieren. In vielen Momenten trägt die visuelle Kunst von „Der Killer“ aber den etwas ausgelatschten Plot.

Der_Killer_Fragment_Comic

Momente der Überforderung werden mit visuellen Brüchen und Fragmentierungen bebildert @ Matz & Jacamon
@ Schreiber & Leser

Wertige Aufmachung

Die Gesamtausgabe ist mit knapp 50 EUR sicherlich nicht günstig – aber der Verlag Schreiber & Leser hat in je einem Band 5 Alben, also einen Zyklus, vereint. Allein vom schieren Umfang her ist der Preis also gerechtfertigt. Das sind 320 Seiten, die in sehr wertigem Hardcover-Format mit entsprechender Leselitze daherkommen. Auch an Druckqualität, Lettering etc. gibt es nichts zu beanstanden. Die französischen Sammelausgaben von Le Tueur kommen in je einem eigenen Schuber daher. Diese Aufmachung war leider nicht möglich, da der Schuber, mit 5mm Wandstärke, ziemlich aufwendig zu produzieren sei. Der Schuber würde also nochmal so viel kosten wie das gedruckte Buch selbst. Das halte ich für ein plausibles Argument – Nichtsdestotrotz haben Schreiber & Leser hier tolle Arbeit geleistet und freue mich darauf, die zwei weiteren Gesamtausgaben nachzuholen.

Hier der Trailer zur heute erschienenen Filmumsetzung:

Fazit:

Der Killer hat mit der Filmadaption durch David Fincher eine ziemlich hochkarätige, wenngleich sehr freie Übersetzung ins Film-Medium bekommen, welche man sich ab heute auch auf Netflix zu Gemüte führen darf. Die Comic-Vorlage von 1998 von Matz und Luc Jacamon hingegen wirkt weniger wie eine Dekonstruktion des Auftragskiller-Sujets, sondern wie eine launig-pulpige Tour de Force des namenslosen Protagonisten. Dieser ist eigenbrötlerisch, nihilistisch und hochgradig professionell. Durch den starken Fokus auf das relativ reduzierte Innenleben des Auftragskillers wirkt das Ding wie ein typisches Gen X-Produkt, das den Zeitgeist der 90er atmet. Das Erzähltempo ist weitgehend behäbig geraten, zieht aber immer wieder ordentlich an. Das clevere Pacing ist eine wesentliche erzählerische Stärke. Durchgehend hochwertig ist die grafische Gestaltung durch Luc Jacamon, der sich hier erstmalig im professionellen Comic-Betrieb betätigt hat. Die Zeichnungen wirken künstlerisch, aber nicht prätentiös. Der Art Style schmiegt sich hervorragend an die Erzählung – Die Farbgebung, die mal stoischen, mal dynamischen Bildkompositionen, die visuellen Brüche: Das alles passt perfekt!

Der Killer reißt zwar keine Bäume raus, was narrative Innovation angeht, aber ist konzeptuell so durchgestylt, dass es trotzdem Spaß macht, sich durchzuschmökern. Ich freue mich tatsächlich auf die beiden Nachfolgebände und eben den Secret Agenda-Zyklus.

Schreiber & Leser haben hier eine wertige Gesamtausgabe geschnürt, die den ersten Zyklus (aka 5 Alben) beinhaltet. Die erste Ausgabe ist im Dezember 2019 erschienen, im April 2020 folgte die zweite Gesamtausgabe und im Dezember schlussendlich die dritte, die dann nochmal drei Alben umfasste. Ebenfalls 2020 startete dann der neue Zyklus Secret Agenda.

 

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Der Killer Gesamtausgabe 1 

ISBN 978-3965820210

Umfang: 320 Seiten, farbig

Maße: 21.5 x 3.2 x 30.2 cm

Hardcover

Preis: EUR 49,80, erschienen bei Schreiber & Leser

 

Der Killer Gesamtausgabe 1

Story - 7.5
Charaktere - 6.5
Illustration - 8.5
Umfang - 8.5

7.8

Die Vorlage für den David Fincher-Film: Geradlinige Hardboiled-Kost mit misanthropischem Antihelden, die vor allem visuell überzeugt.

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