Als ich anno dazumal im Englisch-Grundkurs der Oberstufe dazu gezwungen worden war, Fahrenheit 451 als Schullektüre auseinanderzunehmen, war ich immer ein bisschen neidisch. Neidisch auf die Leistungskurs-Teilnehmer*innen, die das meiner Meinung nach wesentlich coolere „Brave New World“ von Aldous Huxley lesen und analysieren durften. Das gesamte World Building des Huxley-Romans schien mir wesentlich komplexer und griffiger als die etwas banale Prämisse von Bradburys Roman, die besagte, dass in einer dystopischen Zukunft Literatur verboten wurde, weil gesellschaftlich destabilisierend, und dass die Feuer(wehr)leute der Zukunft nicht etwa Brände löschen, sondern Bücher verbrennen, um gar nicht erst kritische und pluralistische Stimmen zuzulassen.
Es schien mir immer, als hätte Bradbury mitbekommen, wie die antiintellektualistischen Nazis die Bücherverbrennungen ab 1933 als rituelles Mittel zur Unterdrückung subversiver Gedanken inszenierten, und als wolle er drumherum ein futuristisches Setting spannen, um Adornos Auffassung, dass diese Rückkehr in die Barbarei jederzeit wieder möglich sei, zu verdeutlichen. Fahrenheit 451 erschien 1953, also nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Bradbury war in der Tat Zeuge der Bücherverbrennungen und empfand dies in der Tat als Barbarei. Insofern will ich ihm die Dringlichkeit seiner Botschaft nicht aberkennen. Aber long story short, ich empfand Fahrenheit 451 immer als ein bisschen plump.
Als die Pressemitteilung zur Graphic Novel-Adaption von Fahrenheit 451, aus der Feder von Víctor Santos, reinflatterte, dachte ich mir, wieso gibst du dir nicht einen Ruck, und gibst der Story nochmal eine Chance. Vielleicht packt sie dich mit kongenialer visueller Umsetzung ja doch noch. Und aus diesem Blickwinkel heraus betrachten wir dann auch die vorliegende Ausgabe, die über Cross Cult erschienen ist. Zugleich habe ich in diesem Zuge aber auch noch in eine ältere Graphic Novel-Adaption von Tim Hamilton reingeschaut, und werde im Rahmen der Review partiell Vergleiche anstellen. Vielen Dank an dieser Stelle an Filip Kolek und den Verlag zur Bereitstellung dieses Exemplars.
Eine Welt wider den Intellekt
Die Geschichte von Fahrenheit 451 ist altbekannt: Der Romantitel bezieht sich auf die angenommene Selbstentzündungstemperatur von Papier, was in unseren Breitengraden etwa 232,8 Grad Celsius entspricht. Der Roman, und damit auch der Comic spielen in einem Staat, in welchem der Besitz von Büchern ein Kapitalverbrechen darstellt. Die Gesellschaft wird von einer namenlosen Regierung in Unmündigkeit gehalten. Die Leute werden schnell vergesslich, werden dauerhaft mit seichtem Programm auf so genannten Wand-zu-Wand Kanälen, großflächige Videowänden, beschallt und für etwaige Form von Seelen- oder Weltschmerz gibt es entsprechende Pillen. Das Suchen und Finden von Antworten in der Welt der Wissenschaften, in Kunst und Kultur, in Literatur, Philosophie, Religion und Spiritualismus ist hingegen verpönt. Selbstständiges Denken gilt als gefährlich, die Inhalte des Bücherbestandes der Menschheit sind widersprüchlich wie die Menschheit selbst. Ihr Konsum führe folgerichtig zu widersprüchlichem, und damit antisozialem Verhalten. Und das wiederum führt zur Destabilisierung der Gesellschaft.
Hauptfigur von Fahrenheit 451 ist der Feuermann Guy Montag. In der Welt von Ray Bradbury ist die Feuerwehr ziemlich genau das Gegenteil von dem, was wir kennen. Sie löscht keine Brände, sie verursacht sie. Ein Rettungsdienst, der Feuer löscht, scheint in einer Welt, in der außer Papier alles feuerfest zu sein scheint, kaum notwendig. Die Feuerwache ist also die exekutive Spezialeinheit, deren Aufgabe es ist, die verbotenen Bücher zu finden, und zu vernichten. Symbolisch steht auf den Helmen dieser Spezialeinheit die Zahl 451, auf den Uniformen prangt ein Salamander-Symbol – mythologisch bedingt durch die Annahme, dass Salamander auch im Feuer leben können. Unter Zuhilfenahme von mechanischen Spürhunden werden die Besitzer*innen der Bücher, staatlich legitimiert, verfolgt und durchaus auch getötet.
Guy Montag ist 30 Jahre alt, Feuermann seitdem er 20 ist und führt seine Tätigkeit seit diesem Zeitpunkt auch vermeintlich vollkommen kritiklos durch. Alles ändert sich, als er auf die 17-jährige Clarisse McClennan trifft, die mit ihren Eltern und ihrem Onkel in die unmittelbare Nachbarschaft gezogen ist. Das ganz und gar unkonforme Mädchen, das sich selbst als „verrückt“ bezeichnet, konfrontiert Guy nicht nur mit der Schönheit der Natur, der Schönheit des tiefergehenden Dialogs, sondern auch mit der Frage, ob er glücklich sei.
Sie hinterlässt merklichen Eindruck auf den verdutzten Guy, liefert aber mit der Frage nach dem Glück zugleich das Stichwort für eine Situation, die ebenfalls tiefergehende Zweifel in Guy aufkeimen lässt. Denn daheim angekommen findet Guy seine zusammengebrochene Ehefrau Mildred vor, die ob einer Überdosis Schlaf- und Beruhigungstabletten beinahe das Zeitliche segnet. Sie selbst spricht später von einem Unfall, sie habe wohl schlicht vergessen, dass sie bereits einige Pillen eingeworfen habe.
Die „Rettungskräfte“ indes behandeln Mildred mit einer ziemlich gleichgültigen Kaltschnäuzigkeit, man habe ja mit solchen Fällen neun oder zehn Mal pro Nacht zu tun. Den Magen auszupumpen und das Blut zu reinigen ist mit Spezialmaschinen nur noch bloße Routine, die mit 50 Dollar berechnet wird. Für Guy markiert diese Situation eine Zäsur, ab der ihn die Frage nach dem Glücklichsein nicht mehr loslässt. Während Mildred weiter ihrem gedankenlos Tagwerk nachgeht, vertieft Guy in Folge seine Freundschaft zu der anarchischen Clarisse, die in ihm immer mehr Perspektiven und Fragen erweckt. Erstmalig wird ihm auch der Ursprung seines Berufes bewusst, dass die Feuerwache im Sinne einer Feuerwehr früher als Rettungsnotdienst funktionierte.
Seine neuerweckte Neugierde bleibt von seinen Dienstkollegen nicht unbemerkt und sorgt für einige angespannte Momente. Gerade sein ambivalent gezeichneter Vorgesetzter, der sich später als zentraler Antagonist entpuppen soll, Captain Beatty, scheint etwas zu ahnen. Er weist Guy auf die (falschen) Ursprünge seines Berufes hin, beleuchtet aber auch die Entwicklung dieser Gesellschaft, die sich nicht auf dem Fundament von Zensur und Unterdrückung zu dem entwickelt habe, was sie ist, sondern aus einer pervertierten, antidiskriminierenden Logik gegen den vorherrschenden Klassismus heraus. Beatty droppt nebenbei, dass auch er das ein oder andere Buch gelesen habe, dass ihm die Lektüren aber nichts gegeben hätten.
Guy, der offenbar nicht mehr mit dem Status Quo zufrieden sein kann, versucht seine Frau dazu zu motivieren, mit ihm gemeinsam zu lesen und das Selbstdenken neu zu erlernen. Doch als Mildred nur wenig Lust zeigt, von ihren Gewohnheiten abzurücken, beschließt Guy Montag den pensionierten Literaturprofessor Faber als Mentor aufzusuchen. Zeuge einer vergangenen Zeit, in der es noch so etwas wie Hochschulen gab, an denen Wissenschaft gelehrt wurde. Diese Entscheidung soll folgenreiche Konsequenzen haben…
Die Graphic Novel-Adaption hält sich ziemlich nah am originären Werk – es gibt einige Punkte, die aufgrund der Natur des Mediums kürzer oder weniger ausformuliert erscheinen, im Wesentlichen sind aber die zentrale Eckpunkte der Romanvorlage enthalten. Die Verdichtung funktioniert meines Erachtens nach gut, das Erzähltempo ist spürbar höher als bei der doch eher gemählichen Literatur. Das ist insofern gut, weil die Geschichte so keine Längen aufweist, und das Tempo auch konsequent beibehält.
Interessant ist, dass die Version von Víktor Santos deutlich zugänglicher ist, als die Interpretation von Tim Hamilton, an der Ray Bradbury auch als Autor beteiligt gewesen ist. Auf der Meta-Ebene könnte man die Straffung natürlich kritisieren, gleichzeitig wirkte das Hamilton-Ding aber auch in der Hinsicht beinahe zu textlastig, obwohl sich beide Werke in der Seitenzahl wenig tun. Den 154 Seiten der Santos-Ausgabe stehen 148 Seiten der autorisierten Hamilton-Variante gegenüber. Das Pacing gefiel mir in der Santos-Ausgabe besser, die Hamilton-Version hingegen fühlte sich wuchtiger und literarischer an, bot aber mehr Fläche für Kritik mit Blick auf Text-/Grafik-Korrespondenz.
Aber auch bei Santos steht ein Elefant im Raum: Die Graphic Novel von Tim Hamilton kam 2009/2010 heraus, das ist m.E. noch nicht allzu lange her. Ich frage mich, ob eine erneute Interpretation im selben Medium in vergleichsweise kurzer Zeit wirklich notwendig ist, zumal hier eben erzählerisch keinerlei Experiment gewagt wird. Damit kommen wir dann auch zum nächsten Punkt.
Verschenktes erzählerisches Potential
Auf dem Klappentext steht, dass Fahrenheit 451 „nichts an Relevanz eingebüßt“ habe. Ich hingegen behaupte, doch, das Werk hat definitiv an Relevanz eingebüßt. Denn eine zentrale Problematik von Fahrenheit 451 war immer, dass das Worldbuilding ziemlich vage blieb. Alles in dieser Dystopie war um den barbarischen Akt der Bücherverbrennung gestrickt. Hier wirkte ein Bradbury immer ein bisschen arrogant: Die Macht des Wortes stand über der Macht des Bildes. Nie war ein Punkt in Bradburys Fiktion, dass es das seichte Worte gibt, dass dem kontroversen Bild unterlegen sein könnte. Das ist die eine Kritik. Die andere ist, dass gesamtgesellschaftliche Konsequenzen aus einem Bücherverbot im Grunde ein ziemlich spannendes Terrain wären. Erstrecken sich Verbote auch auf andere Kunstformen? Wie geht technologischer Fortschritt ohne wissenschaftliche Erkenntnisse vonstatten? Erstreckt sich die Dystopie auf einen Staat, oder ist sie global umspannend? Es gibt in der Romanvorlage und auch in der Graphic Novel offenbar einen nicht näher benannten Krieg. Haben wir eine Gesellschaft, die quasi den Peak-Kapitalismus erreicht hat, oder auch über die Bücherverfolgung hinaus streng reglementiert und faschistoid anmutet?
Hier hat sich Bradbury ein bisschen rausgewieselt. Guys‘ Ehefrau Mildred als loyaler Systemling wirkt schlicht ein bisschen dümmlich. Faber wirkt weit weniger weise, als es uns das Buch weis machen will und die junge Clarisse wirkt wie ein Deus Ex Machina-artiges subversives Manic Pixie Dream Girl, das aus der Luft gegriffen wirkt. Am spannendsten ist noch der nihilistisch anmutende Captain Beatty, der mir immer Hans Landa-Vibes gegeben hat.
Nun gibt die Romanvorlage Leerstellen und Aktualisierungspotential her, das in der Graphic Novel durchaus hätte aufgegriffen werden können:
Die Depressionen von Mildred etwa, die zu ihrem Suizid-Versuch führen, könnten mit aktuellen Mental Health-Debatten verknüpft werden. Ebenso wie die retrofuturistischen Gadgets, die „Wand-zu-Wand Kanäle“ und ihre technologischen Nachfolger, die „4. Wände“, auf technologische „Errungenschaften“ wie TikTok und Instagram übertragen werden könnten, die ähnlich wie im Buch/Comic, zu verkürzten Aufmerksamkeitsspannen führen. Kurzum: Es gäbe kreative Möglichkeiten, Charakterkonstellationen, präsente Konflikte und die zentrale Botschaft des Romans in eine aktuellere Zukunftsvision zu hieven. Auch hätten die Figuren stärker ausgearbeitet werden können. Ich empfinde Bradburys Schreibe retrospektiv als arg misogyn und „von oben herab“. Das ist insofern kein Wunder, weil er in den 1950ern ein typisches Kind seiner Zeit war. Das per se grandiose „Stranger in a Strange Land“ von Robert A. Heinlein trägt das Herz beispielsweise auch am rechten Fleck, hat aber auch so seine Probleme mit der Charakterzeichnung bei weiblichen Figuren. Hier teilt sich Bradbury also die sexistische Tradition mit seinen Sci-Fi-Kollegen. Hier hätte man also auch aktualisieren und differenzieren können. Im Grunde zeigt die Black Mirror Episode „Fifteen Million Merits“, wie man die Vorlage aufpolieren könnte. Mit der sklavischen Nähe zum Roman sehe ich also eine Menge verschenktes Potential.
Die Zeichnungen sind gleichermaßen eigenständig und anachronistisch
Die seit Jahren vergriffene Hamilton-Ausgabe setzte auf einen düsteren Noir-Artstyle mit harten Strichen. Víctor Santos hingegen setzt die Geschichte in einem stilisierten, abstrahierten Retrofuturismus-Stil um, der gleichermaßen in der Zukunft verortet sein könnte, aber auch noch klobige 1950er-Sci-Fi-Artefakte im Stil inkorporiert. Gewissermaßen hat mich der Stil ein wenig an die (recht unansehnlichen) US-Artworks zu den alten Mega Man Spielen für das NES erinnert, andererseits an sowjetische Propaganda, partiell aber auch an alte Pop Art Kunstwerke von Roy Lichtenstein. Letzteres vor allem durch die recht intensive Nutzung von sogenannten Benday Dots für Schattierungen.
Santos wechselt zwischen den Stilen – Vor allem die Sequenzen, die sich um Mildred drehen, setzen auf den Lichtensteinesquen Pop Art Stil, während die Momente, in denen die repressiven Dynamiken der Gesellschaft gezeigt werden, vor allem auf einen propagandistischen Stil in dunklen Farbtönen setzen.
Mir hat der Stil von Santos‘ Polar Comicvorlage ziemlich gut gefallen, und ich fand, dass der Netflix-Film sich ein bisschen zu sehr aus dem Fenster gelehnt hatte. Bei Fahrenheit 451 bin ich trotz ästhetischer Parallelen aber irgendwie… unzufrieden. Es liegt nicht zwingend an den grobschlächtigen Gesichtern und den klobigen Proportionen ihrer Körper – es sieht häufig einfach ein bisschen billig aus, mitunter auch vom Coloring her. Die Bildkompositionen stimmen für mich grundsätzlich, aber der abstrakte, stilisierte Retro-Look hat mich trotz einem pointierten, eigenen Stil nicht so richtig abgeholt. Schade.
Wertige Ausgabe
Das ist schade, weil Cross Cult hier gewohnt gute Arbeit geleistet hat. Für extrem faire 22 EUR bekommt man einen schönen Band im sehr festen Hardcover-Format. Der Druck ist hervorragend, die Seiten sind schön dick und wirken mattiert. Obschon der künstlerische Stil nicht ganz meins ist, kommen gerade die flächig colorierten Seiten extrem gut rüber.
An der Übersetzung durch Silvano Loureiro Pinto ist nichts auszusetzen. Auch das Lektorat hat hier gute Arbeit geleistet. Für das Lettering ist Barbara Müller verantwortlich, und auch sie hat m.E. einen guten Job geleistet. Man kommt also nicht umhin zu sagen, dass Fahrenheit 451im Comic-Regal eine gute Figur macht.
Fazit:
Ich hoffe insgeheim, dass ich dem Comic gegenüber nicht ein wenig zu voreingenommen ob meiner kritischen Haltung zur Romanvorlage bin. Cross Cult hat hier ein ziemlich gutes und wertiges Gesamtpaket geschnürt. Erzählerisch legt die Graphic Novel ein passables Tempo hin, dass den Plot des Romans ziemlich pointiert vorantreibt. Das Pacing ist m.E. stimmiger als bei der Hamilton-Umsetzung. Gleichzeitig gibt es aber auch keinerlei erzählerische Innovation, man hält sich relativ sklavisch an die m.E. eher banale Roman-Dystopie, obwohl gerade die Leerstellen spannend gewesen wären. Auch visuell ist das Ding ein zweischneidiges Schwert: Man merkt in der Regel, welche künstlerische Vision Santos vorschwebte, die eher stilisiert-abstrakte Aufmachung gefällt aber zumindest mir nur bedingt. An der Noir-Ästhetik der Hamilton-Version fand ich zwar Gefallen, tonal wirkt das hier aber durchaus durchdachter. Wer Fahrenheit 451 also in Romanform mochte, und dem Comic-Medium nicht abgeneigt ist, der kann hier durchaus zugreifen. Alle anderen sollten beim Comicfachhandel ihres Vertrauens Probe lesen, ob die etwas altersschwache Dystopie für sie noch taugt.
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Fahrenheit 451 – Gebundene Ausgabe
ISBN-13: 978-39866651 ISBN-10: 3986665196
Umfang: 160 Seiten
Maße: 16.5 x 1.9 x 24.5 cm
Gebundener Einband
Preis: 22,00 EUR, erschienen bei Cross Cult
Fahrenheit 451
Story - 5.7
Charaktere - 5.5
Illustration - 6.3
Umfang - 7.3
6.2
Comic-Adaption eines etwas altbackenen Roman-Klassikers. Treibt die Handlung der Vorlage pointiert voran, enttäuscht aber mit mangelnder Innovation in visueller und erzählerischer Hinsicht.