Comic Review: Bertrand Galic: Fukushima – Die Chronik einer Katastrophe

Ich spare mir mal den mittlerweile extrem ausgelutschten Einstieg darüber, dass Comics mittlerweile den Kinderschuhen entwachsen sind. Genaugenommen sind Graphic Novels schon so lange ein Ding, dass ich meine Abschlussarbeit damals über Comics in der Schule geschrieben habe. Wer also das Medium nicht ernst nimmt, ist nicht nur nicht up-to-date sondern schlicht ignorant. Aber da hören die Bezüge zu meinem Studium auch nicht auf, schließlich steckt in mir ein kleiner Historiker und als solcher interessiere ich mich natürlich für Geschichte und das Zeitgeschehen und da bietet das zehnjährige Jubiläum der Reaktorkatastrophe in Fukushima den perfekten Rahmen um meine Interessen zu vereinen. Tja, jetzt habe ich den Einstieg ja doch nicht übergangen…

Masao Yoshida hat einen fürchterlichen Tag. Und mit ihm möglicherweise die ganze Welt, denn dieser schlechte Tag ist der 11. März 2011 und somit ein Freitag, der alles andere als ein entspanntes Wochenende für den Direktor eines der größten Atomkraftwerke der Welt bereithält. An diesem Tag wird Japan von einem Erdbeben erschüttert. In gewissem Maße gehört das dort zum Alltag, aber dieses Erdbeben vor der Küste der Insel löst einen Tsunami aus, der nicht nur die Küstenregionen verwüstet, sondern auch die Dämme rund um das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi durchbricht. Leider brechen mit dieser Hiobsbotschaft die schlechten Nachrichten nicht ab und Yoshida und seine Mitarbeiter müssen sich gegen die zerstörerische Gewalt der Natur und der Technologie stemmen, um eine globale Katastrophe zu verhindern.

@Cross Cult

Fukushima – Die Chronik einer Katastrophe ist zwar eine fiktionalisierte Version der Gegenwart, versucht aber dabei ein möglichst authentisches Abbild der Geschehnisse darzustellen. Der Autor schreibt seine Geschichte dabei im Stile einer Kurzgeschichte, das heißt wir als Lesende nehmen nur an einer Momentaufnahme Teil. So ist Direktor Yoshida zwar der Protagonist, von einem klassischen Comichelden kann man hier aber nicht sprechen. Statt seinen Werdegang und seine Heldentaten in den Vordergrund zu stellen, dient er vielmehr als eine Art Vehikel um die Kettenreaktion an Katastrophen aus einer persönlichen Ebene zu betrachten, schließlich weiß der Direktor vor Ort mehr über die Geschehnisse in Fukushima, als ein einfacher Angestellter oder ein Reporter von außen. Das führt dann folgerichtig dazu, dass der Hauptcharakter, und eigentlich auch alle anderen handelnden Personen, im Vergleich zu der Gefahr erblassen und ein wenig in den Hintergrund treten. Die Strahlung und die aus ihr drohende Katastrophe wird daher auch ziemlich passend als „Feind“ bezeichnet, auch wenn es hier keine klassischen Gegner gibt. So wird in der Geschichte auch kein Schuldiger ausgemacht, erst im umfangreichen Zusatzmaterial, welches die Reaktorkatastrophe historisch und wissenschaftlich für Laien einordnet, erfährt man als Leser ohne großes Vorwissen von der Verkettung von menschlichem Versagen, die letztendlich den Unfall überhaupt erst ermöglichte.

Die Atmosphäre ist aber dennoch sehr beklemmend und braucht gar kein zwischenmenschliches Drama, um die Lesenden zu packen. Durch den realistischen Artstyle von Roger Vidal und die kalten Farben wird der unsichtbare Feind spürbar und der an Dämonenbeschwörung erinnernde Kampf mit und gegen die Technologie schafft stille Helden, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um Schlimmeres zu verhindern.
Aber funktioniert die Story im Medium Comic? Unterhaltung, im Sinne von Mitfiebern mit den Helden, spannenden Dialogen oder aufregender Action finden die Leser nämlich praktisch gar nicht, ebenso wie einen richtigen Plot, denn wir erleben hier nur einen Ausschnitt. Langweilig ist das Buch nicht, aber abgesehen von der Stimmung bleibt einem nach dem Lesen nicht viel hängen, denn einen großen Teil der Atmosphäre trägt der Fakt, dass es sich bei der Rahmenhandlung um eine Geschichte aus der Realität handelt. Somit ist der Comic relativ trocken, eben ganz so, wie es eine komplett in Schrift verfasste Chronik auch wäre. Aber vielleicht ist das ein wenig das, was einen Graphic Novel von einem dicken Comic unterscheidet? Letztendlich regt das Buch zum nachdenken an und belegt so, dass das Medium Comic jedes literarische Genre mittragen kann.
Am Ende bleibt einem als Leser dann die Frage: Sind Atomkraftwerke das Risiko wirklich wert, wenn man menschliches Versagen nie ausschließen kann?

@Cross Cult
Ist da ein Schulbuch in meinem Comic?

Fazit

Story - 7.5
Darstellung - 8.5
Umfang - 9

8.3

Mit seiner Erzählung zur Katastrophe in Fukushima erzählt Bertrand Galic keine fantastische Geschichte, sie ist aber umso wichtiger. Ähnlich, wie es auch die HBO Serie rund um Tschernobyl machte, zeigen der Autor und sein Zeichner die unkalkulierbare Gefahr von Atomkraft auf eine gleichzeitig menschliche, aber auch überaus bedrohliche Art und Weise. Und das indem das Duo seine Bilder sprechen lässt, ohne offensichtlich eine Agenda zu vertreten. Eine wichtige Geschichte, die zwar fiktive Elemente aufweist, aber doch leider viel zu real ist.

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