Comic Review: Jonathan Hickman, Mike Huddleston: Decorum – oder: wie man mehr vorgibt, als man ist.

Vorab: Autor Jonathan Hickman (u.a. verantwortlich für X-Men und Fantastic Four) hat mit Decorum ganz ohne jeden Zweifel ein ausladendes und ambitioniertes Sci-Fi Epos geschaffen, für das er nicht ganz unverdient eine Nominierung für den renommierten Eisner Award 2021 in der Kategorie „Best Limited Series“ eingeheimst hat. Ursprünglich 2020 – 2021 als 8 Ausgaben umfassender Limited Run bei Image erschienen, hat Decorum bei Cross Cult die Premiumbehandlung genossen und erschien Mitte Mai schließlich als deutschsprachige Ausgabe im hochwertigen Hardcover-Album-Format.

Der Begriff „Decorum“ bedeutet im englischsprachigen Raum so viel wie Anstand und Schicklichkeit. Und natürlich ist dieser Begriff etymologisch nicht weit entfernt von dem deutschen Wort „Dekoration“ – dass da im übertragenen Sinne eben Zierde und Schönheit bedeutet, aber eben auch den Schein als Eigenschaft hat. Schön ist Decorum in jedem Falle – zeitweilig sogar atemberaubend schön bebildert von Zeichner Mike Huddleston. Und doch kam mir während des Lesens immer wieder in den Sinn, dass all die überbordende Opulenz sowohl in der Bebilderung, vor allem aber in der Erzählung und im World Building mehr vorgibt zu sein, als es in seiner Essenz ist. Warum das so ist, versuche ich im Rahmen dieser Review zu erläutern.

Das Kleine im (viel zu) Großen

Decorum beginnt sperrig und überwältigt den oder die Leser*in mit einem ausschweifenden Exkurs zu den sogenannten Reservaten innerhalb des einstigen Solar-Imperiums mit seinen ressourcenreichen Goldlöckchen-Planeten. Die Reservate sind dabei Artefakte, in denen Zivilisationen sich isoliert voneinander in ihrem natürlichen Habitat evolutionär entfalten soll(t)en. Zivilisationen, die einen spezifischen Entwicklungsstand erreichen, werden schließlich in den Reigen des Imperiums aufgenommen.

Im Anschluss an diese wortreiche Ausführung, werden wir in eine Sequenz reingeworfen, in denen wir einer Gruppe „Indigener“ begegnen, die in einer karibisch (aber natürlich nicht irdisch) anmutenden Szenerie, Zeuge einer Invasion ihrer Welt werden. Die Aggressoren, Teil einer hierarchischen künstlichen Intelligenz, wirken dabei trotz ihrer humanoiden Gestalt nur bedingt menschlich, eher wie abstrakte Polygonmodelle. Sie sprechen von einer „Beichte“, die es abzuleisten gilt. Ansonsten wird in dieser Exposition wenig gesprochen. Getragen wird die Szene ausschließlich von der großartigen Kunst von Mike Huddleston.

Decorum: Die Matte Painting-artigen Illustrationen von Mike Huddleston sind mitunter atemberaubend schön

© Jonathan Hickman, Mike Huddleston
© Image Comics
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Doch schon die nächsten Tutorials zum „Verständnis der Welt“  liefern erneut komplex konstruierten Mythos: Wir haben physische und metaphysische Fraktionen wie die „Kirche der Singularität“, von der die oben benannten hierarchisch organisierten KI-Invasoren stammen, wir haben die „Unionisten“, die im Laufe des Sammelbandes keine wichtigere Rolle spielen – wir haben die „Himmlischen Mütter“, ein Bund dessen ewigwährendes Schicksal es ist, ein ominöses Ei und dessen Inhalt zu beschützen, das von der als KI-Kirche als Quasi-McGuffin händeringend gesucht wird – und dem der Messias entschlüpfen soll, der wiederum von der Kirchen-AI-Oberinstanz als Gott einprogrammiert ist, der eine Apokalypse heraufbeschwören soll.

Auch Jonathan Hickman beschwört eine gigantisch große Erzählung, die jedes Maß sprengt. Er geht insofern in die Vollen, als das man direkt das überbordende World Building aus dem Stegreif vor den Latz geknallt bekommt. Decorum fordert und überfordert gerade zu Beginn und es bedarf ein bisschen Geduld, sich in das Ding reinzufuchsen. Doch nach und nach kristallisiert sich dann die „kleinere“ Handlung heraus, bei der man dann doch ein paar Anknüpfungspunkte mehr findet.

Decorum: Das Schicksal hat großes mit Kurierin Neha Nori Sood vor

© Jonathan Hickman, Mike Huddleston
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Im zweiten Kapitel lernen wie die Kurierin Neha Nori Sood kennen – Neha ist als klassische Sci-Fi Underdog-Figur gekennzeichnet, welche in dieser Form auch Teil des Star Wars Universums sein könnte. Von der Straße auf dem beinahe anarchischen Planeten Daeldus  sozialisiert, liefert sie im Auftrag einer merkwürdigen Gestalt namens Luca dubiose Pakete für noch dubiosere Auftraggeber aus. Sie benötigt das Geld, um ihren kranken Bruder medizinisch zu versorgen. Als sie eines Tages einen besonders lukrativen, aber eben auch entsprechend tödlichen Auftrag erhält, gerät sie unabsichtlich in ein blutiges Intermezzo zwischen Vertreter:innen des sogenannten Großsyndikats und krimineller Mittelsmänner auf Daeldus. Ersteres hat die noble Attentäterin Imogen Smith-Morley, die tödlichste des ganzen Spiralarms, beauftragt den scheinbar illoyalen Mittelsmann Doman D’varth V auszuschalten. Ab diesem Zeitpunkt scheinen sich die Schicksale des Underdogs und der eloquent-grazilen  Auftragsmörderin zu verschränken. Diese gehört einer Zunft von Attentäterinnen an: Die Schwesternschaft der Menschen – gilt als noch unbekannte, aber extrem potente Gruppe von Berufskillerinnen, die zudem auch beständig neue Mitgliederinnen rekrutieren. Entgegen ihrer Bezeichnung, besteht die Schwesternschaft aus allerlei Spezis, das weibliche Geschlecht bleibt die Konstante. Neha Nori Sood wird von Imogen Smith-Morley in diesen illustren Bund gemeinsam mit einigen anderen durchaus auch weniger humanoiden Mitstreiterinnen aufgenommen – In den Folgejahren wird Neha Nori Sood ausgebildet – nicht nur in der Kunst des Tötens, sondern auch in ihren Manieren. Doch hatte Neha Nori schon vorher die Gabe, in große Konflikte ungebeten hineinzuplatzen, potenziert sie diese mit ihrem neuem Skillset noch um das Vielfache.

Der andere zentrale Handlungsstrang ist jener um das bereits genannte göttliche Ei, das einen Messias hervorbringen soll. Da dieser das Machtkontinuum der Kirche der Singularität entkräften würde, will die KI-Kirche das Ei ebenso, wie es der Bund der Himmlischen Mütter schützen will. Hier überlappen sich die Stränge, als die Kirche der Schwesternschaft der Menschen den Auftrag gibt, eben jenes Ei zu beschaffen. Als Belohnung winkt ein ganzer Planet aus purstem Diamanten. Die resolute Führerin der Schwesterschaft muss da nicht lange zögern. Dumm nur, dass Neha Nori Sood das Ei zuerst findet, als bekennende Querulantin ganz eigene Pläne damit verfolgt und gar nicht vorhat, den kommenden Messias an die Schwesternschaft, und damit an die KI-Kirche auszuhändigen. Die Fronten ändern sich, als der Betrug auffliegt: Neha Nori Sood wird von ihren eigenen Leuten auf die Abschussliste gesetzt. Gut, dass der unvollständig geschlüpfte Messias sich dann auch noch zunächst als mächtiger Schwachkopf entpuppt…

Decorum will viel und fordert die Leser*innen konfrontativ heraus: Verschachteltes, überkomplexes World Building erschlägt gerade zu Beginn – gerne auch mit Tabellen, Listen, Graphen und Abstrakten. Das hat sicherlich seinen Reiz, wirkt aber zugleich prätentiös und irgendwie gar nicht mal so unterhaltsam. Nach und nach kristallisiert sich aber die Geschichte um die vormals als Kurierin agierende Neha Nori Sood heraus und wird mit dem kosmischen Konflikt verknüpft, der dem Universum inne liegt. Ab dem Zeitpunkt wird es dann auch unterhaltsam, weil deutlich greifbarer: Neha Nori Sood ist eine gesellschaftliche Außenseiterin, talentiert und großmäulig, aber ohne (Aus)bildung – Als sie von der noblen Imogen, deren Ehemann Mr. Morley nicht nur aussieht wie ein gespenstischer Prince Charles, sondern dessen Träume auch immer zeit- und raumübergreifende Visionen beinhalten, unter ihre Fittiche genommen und zur Attentäterin ausgebildet wird, erinnert das durchaus an Kingsman: The Secret Service von Mark Millar, wo der von der Straße sozialisierte Chav Gary „Eggsy“ Unwin ebenfalls von einem noblen Secret Service Agenten aufgenommen wird. Auch das Screwball-hafte, humorige Hineingleiten der tougen Neha in eine viel umfassendere, existenziellere und kosmische Geschichte erinnert an bekannte Stories wie Guardians of the Galaxy oder tatsächlich auch Star Wars und punktet mit witzigen Einfällen und manchmal messerscharfen Dialogen. Versteht mich nicht falsch, umfassendes World Building ist in der Regel absolut meins – Ich liebe es, wenn man merkt, wie viel Herzblut ein Autor in seine geschaffene Welt hat fließen lassen. Ich liebe es, wenn Gesetzmäßigkeiten und Eigenheiten einer Welt in aller Detailliertheit zur Schau gestellt werden. Aber bei Decorum geht das Kleine und das Große, das Greifbare und das Abstrakte, für mich nur schwer Hand in Hand – es wirkt, als hätte man zwei separate Werke in einem untergebracht, das eine verkopfte Art House, das andere Populärkultur. Ein ähnliches Gefühl hatte ich zuletzt bei Twin Peaks: The Return, als David Lynch einfach mal komplette Episoden untergebracht hat, die wie Video-Installationen anmuteten. Auch da konnte man wissend nicken und anerkennen, sich aber ein bisschen überfordert fühlen.

Atemberaubende Welten … das ist Kunst, oder?

Stilistisch gibt es viele Umbrüche in Decorum, alle funktionieren gut: Auch Cyberpunk-Trademarks werden gerne mal bemüht

© Jonathan Hickman, Mike Huddleston
© Image Comics
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Dafür bilden die beiden Elemente der Geschichte die kreative Gestaltungsfläche für Zeichner und Illustrator Mike Huddleston, der sich hier wirklich hart austoben durfte. Die Bilder sind für mich absolutes Highlight und komplett next level. Es gibt in Decorum viele Bilder, die man sich so einrahmen und an die Wand hängen würde. Ich würde tatsächlich derart weit gehen, dass Decorum der vielleicht bestaussehendste Comic ist, den ich bisher gelesen habe. Und dabei zeigt sich Huddleston auch noch bemerkenswert vielseitig: Wir haben sehr unique Charakterdesigns, wir haben komplett abgespacte, seitenumspannende Artworks, die Gemälden oder sogenannten Matte Paintings gleichen und einen opulenten 1970s Sci-Fi Touch haben. Würden sie so im musealen Kontext hängen, man würde es nicht hinterfragen. Wir haben abstrakte Passagen, die mit minimalistischer Strichführung funktionieren, wir haben mangaeske Sequenzen, die komplett in Schwarz-Weiß und mit Einsatz von Rasterfolie umgesetzt sind, wir haben farblich akzentuierte Illustrationen. Wie die Erzählstruktur und die Weltgestaltung, ist Decorum zeichnerisch überbordend. Was narrativ weniger gut gelungen ist, funktioniert visuell durchgehend und auf höchstem Niveau. An vielen Stellen, wo Hickman beinahe zu sehr Hickman ist, wird Decorum hauptsächlich durch Huddlestons Illustrationen getragen. Wer auf diese Art von Kunst steht, für den dürfte Decorum allein schon aufgrund dieses Umstandes ein Pflichtkauf sein.

Fazit:

Ich würde Decorum wirklich gerne so richtig, richtig lieben – ich wünschte mir, Decorum wäre ein Meisterwerk. Einfach, weil Jonathan Hickman so eine wahnsinnig tiefsitzende Obsession für seine Welt übrig hat. Doch die Art, wie er Worldbuilding betreibt, ist zu sperrig, zu unkomfortabel und wirkt dazu eine Spur zu prätentiös für mich. Das Kosmische und Allumfassende will hier nicht denselben Sog entwickeln, wie die klassische zwischen Star Wars und Kingsmen oszillierende Underdog-Story von Kurierin Neha Nori Sood, die im Laufe der Geschichte von der noblen Attentäterin Imogen Smith-Morley in der Kunst des guten Benehmens und Tötens unterwiesen wird. Dafür aber dürfte Decorum wohl der bestaussehendste Comic sein, den ich bis dato lesen durfte. Mike Huddleston hat hier schlicht atemberaubende Arbeit geleistet. Jede Seite fühlt sich an wie Kunst, die in den erzählerisch weniger spannenden Momenten oft genug auch die Handlung fortträgt. Hier muss ich auch an Cross Cult ein Lob aussprechen, denn die Aufmachung des Sammelbandes ist wertig und äußerst hübsch. Das können wir dann auch Stichwort nehmen, um den Bogen zurück zum Anfang zu spannen: Decorum ist schick, atemberaubend schick sogar, aber gibt oftmals vor, mehr zu sein, als es ist.

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Decorum – Hardcover Ausgabe 

ISBN 396-658-5464

Umfang: 408 Seiten, farbig

Maße: 19.9 x 3.5 x 30.2 cm

Hardcover

Preis: EUR 48,00, erschienen bei Cross Cult

Decorum

STORY - 6
CHARAKTERE - 7.5
ILLUSTRATION - 10
UMFANG - 9

8.1

Visuell und erzählerisch unglaublich reichhaltige Sci-Fi. Was optisch aber perfekt funktioniert, wirkt narrativ manchmal eine ganze Spur zu prätentiös. Nicht alle Handlungsstränge mit ihren unterschiedlichen Erzähltönen funktionieren im geschlossenen Werk.

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