Wir als Daily Geeks wissen: Lebendige Fankultur bemisst sich vor allem daran, in welcher Form popkulturelles Quellenmaterial von den Anhänger*innen angeeignet und in kreativer Weise verarbeitet wird. Egal ob Videogame, Serie, Film, Comic oder Buchvorlage – in pulsierenden Communities gehören die medialen Outputs nicht den Showrunnern und Schöpfern, sondern in fast basisdemokratischer Manier den Fans. Und ob nun beispielhaft Star Trek, Harry Potter, Game of Thrones oder Supernatural: Jedes größere Franchise teilt sich einen umfangreichen Katalog an Fan Fictions bei Seiten wie AO3, opulente Cosplays, die gerne auf Conventions zur Schau gestellt werden, digitale und analoge Fanart unterschiedlicher Qualitäten bei Deviantart oder geballtes kollektives Wissen in den verschiedenen Fan-Wikis. Und weil es irgendwo in der Natur des Menschen liegt und Rule 34 universell anwendbar ist, gehen die kreativen Fanerzeugnisse nicht selten in eine NSFW-Richtung, oder geben den Stories auch gerne mal einen queeren und/oder auch kinky Unterbau. Die preisgekrönte, aus Weimar stammende Autorin Olivia Vieweg kennt ihre Pappenheimer und liefert mit der Graphic Novel Fangirl Fantasy einen charmanten, unglaublich witzigen und gleichzeitig herrlich selbstironischen Einblick in weibliche Fankultur.
Popkultur-Obsession aus der Mitte der Gesellschaft
Der (leicht an Martin Freeman erinnernde) Schauspieler Allan Dale steckt in einer mittelstark ausgeprägten Lebenskrise. Bekannt und beliebt ist er vor allem für seine Auftritte in romantischen Komödien wie My Wife, Her Corgi (And Me), in der Marvel-artigen Superhelden-Serie Young Protectors, der Sci-Fi Show Opportunity und dem Jane Austen-inspirierten Kostümfilmchen Only the Wind Knows. All diese Werke haben eine große Fanbase gemeinsam, die vor allem aus Mädchen und Frauen zu bestehen scheint. Zwar betont sein Agent immer wieder, dass andere Schauspieler*innen für diese Rollen töten würden, Allan hingegen scheint mit dieser Situation aber mehr als unzufrieden und hat in einer Kurzschlussreaktion die Verträge für diese Shows aufgekündigt, um sich als seriöser Charakterdarsteller zu etablieren. Seine Fans sind naturgemäß erschüttert, bedeutet es doch das „Aus“ für viele der beliebten Serien. Die Handlung setzt in London ein: Allan ist gerade bei einem Dinner-Date, als er plötzlich von zwei jungen weiblichen Fans angesprochen wird. Ist die Bitte um eine Signatur noch recht uninvasiv, triggert die Bitte um Sichtung der eigens anfertigten Fanart schlagartig alle Fluchtreflexe.
Abends besucht Allan trotz einer anstehenden Premiere das altehrwürdige Old-Vic Theatre in London, wo er einer Hamlet-Inszenierung beiwohnt, in der ein befreundeter Schauspielkollege namens Jonathan die Hauptrolle spielt. Der Besuch des Stücks ist nicht ganz uneigennützig. Denn über Jonathan erhofft er sich eine Vorstellung beim renommierten Theater-Regisseur Dieter Remhold als Eintrittskarte in das seriöse Bühnenschauspiel-Gewerbe. Doch die Begegnung zwischen Remhold und Dale endet in einer frustrierenden und unangenehm-erniedrigenden Situation, die Allan eher ratlos bis verbittert zurücklässt.
Die anschließende nervenaufreibende Premiere von My Wife, Her Corgi (And Me) folgt dem bekannten Schema F: Blitzlichtgewitter, Lauf über den roten Teppich, ein Q&A, das souverän abgefrühstückt wird, und die anschließenden Presse-Interviews im Backstage.
Hier kommen die drei Fangirls ins Spiel: Die aus Deutschland stammende Lia Schnee, die Lehrerin Ashley King und die Ärztin Kate kennen sich nur aus dem Internet. Die drei eint die Liebe zu „ihrem“ Schauspieler Allan, dessen Werk sie über alle Maßen vergöttern. Über ihren Kontakt „Keith“ erhaschen sie in der Zwischenzeit Zugang in den Backstage.
Allan, der lediglich auf den routinemäßigen Einlass der Pressevertreter*innen wartet, die ihn interviewen sollen, ahnt noch nicht, dass er schon in Kürze in die Fänge obsessiver Fangirls geraten wird, deren Fantasien er in Gefangenschaft bedienen soll.
Als die drei eintreten und eine Waffe auf ihn richten, wird ihm aber langsam bewusst, wo er da hineingeraten ist. Doch noch bevor er seine Entführung richtig realisiert, bekommt er eine Spritze injiziert, schlummert schließlich ein, um in Deutschland wieder aufzuwachen.
In der Villa einer alten DDR-Spielzeugfabrik (der reale, volkseigene „VEB Plüti“, bekannt für allerlei Plastikspielzeug) in dem (fiktiven?) thüringischen Kleinstädtchen Bad Sülzenbrück (bei Sonneberg) wird er von den dreien gefangen gehalten. Lias Großmutter Agnes, die früher in dem Werk gearbeitet hatte, ist Komplizin des ungleichen Trios, das eine klare Agenda hat: Allan soll ihnen die eigens verfassten Happy Ends für die geliebten Serien liefern, deren Schicksal durch seine Vertragsaufkündigungen in der Schwebe hängt. Mittels Erpressung soll er zu mehr Kooperationsbereitschaft gezwungen werden, denn Ashley hat Aufnahmen einer unveröffentlichten Sketch-Serie aus den frühen 00er Jahren parat, die Allan in Zusammenhang mit einer ganzen Reihe kritischer, dem Image nicht gerade förderlicher Inhalte wie Blackfacing, Ableism und Holzhammer-Sexismus in Zusammenhang bringen.
Der Zeitpunkt der Entführung indes könnte für Allan kaum schlechter sein, denn parallel erfährt er von seinem Agenten, dass die renommierte Regisseurin Milena Wellington eine hochbudgetierte finstere Spielfilmadaption von MacBeth im zweiten Weltkrieg inszeniert und ihn dafür verpflichten will. Blöd, dass er bei einer so wichtigen Chance nicht zu Gesprächen bereitstehen kann…
Handzahme Fangirl-Satire
Die Grundprämisse der Handlung könnte den Stoff für eine bitterböse Satire liefern, zwischen den Zeilen gibt es dafür genug Potential. Olivia Vieweg will aber ganz offensichtlich nicht diesen Weg gehen, und obsessive weibliche Fankultur kritisch auseinandernehmen, sondern portraitiert mit viel Humor und eher feinfühlig die Aneignungsprozesse des Fandoms. Man merkt beim Writing irgendwo, dass sie sich selbst mit der Position eines leidenschaftlichen Fans identifizieren kann.
Die drei Hauptprotagonistinnen sind keineswegs irgendwelche komplett hängengebliebenen Low Lives, sondern haben mit Ausnahme von Lia allesamt ziemlich gesetzte bürgerliche Biografien. Kate ist eine Ärztin, die Fan der Superhelden-Serie Young Protectors ist. Sie hat eine Fan Fiction zu einem Script mit der selbst erdachten Antihelden-Figur Inferno verarbeitet, die nur leicht an Loki aus dem MCU erinnert. An einer Stelle wird sie von Allan gefragt, ob sie als Ärztin eigentlich nicht zu verkopft für solchen trashigen Kram sei und dass ihr sehr langweilig sein müsse, wenn sie komplett neue Non-Kanon Figuren entwickele. Sie antwortet ihm, dass sie schon bald keine Zeit mehr für dieses Hobby aufbringen können wird, und dass ihre Ex-Frau ihre selbst erdachten Figuren immer mochte. Der doch eher konservativ denkende Cis-heteronormative Allan ist verwundert, dass eine lesbische Frau einen männlichen Darsteller kidnappt, sie hingegen bringt es auf den Punkt: „Unzählige lesbische Frauen lieben fiktionale Männer!“ – Zugleich macht sie unmissverständlich deutlich, dass die Immersion in einem Popkultur-Universum auch einfach ein gepflegter Urlaub vom stressigen und manchmal existenziell aufwühlenden Alltag sein kann, überlebensnotwendiger Eskapismus quasi.
Über die Sexualität von Ashley erfahren wir zwar nicht viel, aber die Lehrerin („bester Job der Welt!“) liebt die an Raumschiff Enterprise bzw. TNG angelehnte Serie Opportunity, sammelt sauteure originale Filmrequisiten und schreibt queere Fanfiction.
Zu guter Letzt haben wir die etwas eigenbrötlerische Lia, die sich vermeintlich um ihr altes, aber ziemlich rüstiges Großmütterchen Agnes kümmert, in ihrer Liebe zu Kostümdramen á la Downton Abbey oder Jane Austen einen merkwürdig archaischen Sprech pflegt, und als bezahlte Amazon-Reviewerin chinesischem Crap 5 Sterne auf der Handelsplattform gibt. Passenderweise ist sie der Crush des durch und durch bodenständigen DHL-Boten Jürgen, der angesichts der vielen Sendungen, regelmäßig Kontakt zu ihr hat.
Olivia hat ihr Figurentableau trotz aller Absurdität und trotz aller moralischer Grauzonen, derer wir als Leser*innen Zeuge werden, ziemlich nahbar gestaltet. Sie wirken ziemlich aus dem Leben gegriffen und das macht die Situationskomik auch so glaubhaft. Auch der Kontrast zwischen dem glamourösen London und der ostdeutschen Provinz trägt viel dazu bei, dass hier Lebensrealitäten und begehrenswerte Fiktion aufprallen. Ob diese beiden Sphären dann versöhnlich Hand in Hand zu einem Happy End finden? Bleibt abzuwarten…
Fangirl Fantasy ist reinrassige Feelgood-Kost. Es gibt zwar immer wieder satirische Spitzen, die werden aber nie so richtig böse oder zynisch, sondern maximal klamaukig abgehandelt. Unsere „Heldinnen“ verhalten sich zutiefst menschlich und moralisch nicht immer ganz integer, werden gleichzeitig aber nicht vorgeführt. Auch Allan lernt im Laufe der Handlung, dass er als Person des öffentlichen Lebens, seinen Frieden damit machen muss, dass seine Bühnenpersona zumindest ein stückweit den Fans gehört, und dass das als Berufsschauspieler eine durchaus privilegierte Position ist. Passend dazu widmet Olivia Vieweg in den Danksagungen dem Fangirltum verbal die gereckte Faust: „Für alle Fangirls: bleibt passioniert, bleibt cringe! Benehmt euch! 😉“
Locker-flockiger Art Style
Künstlerisch hat mich Fangirl Fantasy ein wenig an den Stil von Bryan Lee O’Malley erinnert, der am ehesten für Scott Pigrim und Lost At Sea bekannt sein dürfte. Ähnlich wie der kanadische Illustrator bedient sie sich einer Ästhetik, die einerseits von Manga und Anime inspiriert ist, im Klartext gestaltet sie ihre Figuren mit großen und expressiven Augen, wenig Kanten bei anatomischen Details, gleichzeitig aber westlich schnodderig, locker-flockig, indiesk und bisschen Subkultur-verliebt. Fangirl Fantasy wagt visuell keine großen Experimente, die Panelaufteilungen sind klar und linear, die Figuren stehen immer Zentrum, meist werden die Panels durch Close-Ups getragen. Klare Erdung erhält das visuelle Storytelling über die Einflechtung von Bezügen aus der Realität: Der typische DHL-Transporter, die alte Spielzeugfabrik, an der noch das DDR-typische VEB-Zeichen an sozialistische Zeiten erinnert, die klassischen deutschen Ortsschilder. Das macht irgendwie Spaß, weil man als Leser*in selbst ein bisschen projezieren kann. Visuell lehnt sich Fangirl Fantasy eigentlich nur dann aus dem Fenster, wenn wir uns in die einzelnen episodisch erzählten Fanfictions der Protagonistinnen begeben. Hier hätte ich mir aber beinahe gewünscht, dass man die Visuals der Vorlagen (Marvel, Star Trek, Downton Abbey) noch ein bisschen pointierter (e.g. Farbwahl, Kostümbild, Requisite) rübergebracht hätte.
So setzt sich nämlich die Fangirl-Fantasie nicht so sehr von der im Comic dargestellten Realität ab: Beide Ebenen arbeiten nämlich mit ähnlichen Farbpaletten, die zwar meist knallig, aber eher verträumt daherkommen, d.h. es wird viel mit Lila-Violett, Orange-Gelb und dunkelblau-grünlichen Farbtönen gearbeitet. Das sieht meist durchaus atmosphärisch aus, ich hätte mir aber bei den Episoden mehr Mut zum visuellen Ausreißer gewünscht.
Aufmachung
Fangirl Fantasy ist als Paperback bei Carlsen Comics erschienen. Zwar fände ich ein klassisches Album-Hardcover Format für die rund 260-Seiten starke Graphic Novel noch eine Ecke feiner, die Aufmachung ist aber Carlsen Comics-typisch gewohnt hochwertig. Gerade die mattierten, dicken Seiten machen ordentlich was her. Die Druckqualität ist m.E. herausragend, es gibt wenig Farbabweichungen bei der oft flächigen Colorierung. Das Lettering ist ebenfalls stimmig. Mit 26,00 EUR ist das Ding meiner Meinung nach ziemlich fair bepreist.
Fazit:
Fangirl Fantasy macht Laune. Beim irrwitzigen Plot hätte Olivia Vieweg durchaus die Möglichkeit gehabt, eine bitterböse Satire auf weibliches Fandom zu schaffen. Stattdessen aber hat sie eine charmante Story um die Beziehung und Aneignungsdynamiken zwischen Fans und ihren Stars bzw. Serien kreiert, die extrem menschlich und nahbar wirkt. Olivia ist definitiv selbst ein Geek, das merkt man, denn Fangirl Fantasy wirkt ziemlich authentisch, und dabei zugleich clever, humorvoll und herzlich. Die drei Fangirls Lia, Ashley und Kate sind nicht einfach nur Weirdos, die vorgeführt werden, sondern durchaus Figuren, die so in der eigenen Bubble stattfinden (könnten). Auch die Verortung zwischen London und der ostdeutschen, thüringischen Provinz schafft auf gelungene Weise die Verknüpfung zwischen Alltag und Fiktion. Visuell erinnert mich das Ding (positiv) an die Scott Pilgrim-Comics, wenngleich ich mir ein bisschen mehr Mut zum Experiment gewünscht hätte. Trotzdem, klare Empfehlung!
Bei Amazon bestellen:
ISBN-13 978-3551799951 ISBN-10 3551799954
Umfang: 272 Seiten
Maße: 17.5 x 2.3 x 24.5 cm
Paperback, flexibler Einband
Preis: EUR 26,00, erschienen bei Carlsen Comics
Fangirl Fantasy
Story - 7.8
Charaktere - 8
Illustration - 7.3
Umfang - 7
7.5
Fangirl Fantasy macht Laune. Olivia Vieweg hat eine charmante Story um die Beziehung und Aneignungsdynamiken zwischen Fans und ihren Stars bzw. Serien kreiert, die extrem menschlich und nahbar wirkt. Olivia ist definitiv selbst ein Geek, das merkt man, denn Fangirl Fantasy wirkt ziemlich authentisch, und dabei zugleich clever, humorvoll und herzlich.