Indika ist ein vielschichtiges Schwergewicht – das wird bereits in den ersten Spielminuten klar. Das vom ex-russischen und im Zuge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine mittlerweile aus Kasachstan agierende Indie-Studio Odd Meter hat viel zu sagen. Gleichsam ist der polnische Publisher (und Entwickler) 11 Bit Studios bekannt für kopflastige und aufwühlende Titel wie This War of Mine oder Frostpunk und insofern hat Indika die denkbar beste Verlagsheimat bei den Polen gefunden. Eine andere Besprechung hat dem Machwerk attestiert, es wirke wie eine interaktive, spielbare Fassung einer A24-Filmproduktion. Stimmt durchaus, ich habe mich aber auch unmittelbar an die ebenfalls rätselhaften, mitunter brutalen, aber nie gänzlich humorbefreiten Filme von Andrej Tarkovsky (STALKER) und Alexei Jurjewitsch German (Es ist schwer, ein Gott zu sein) erinnert gefühlt. Die Arthouse-Prämisse ist spannend, kann Indika aber auch darüber hinaus überzeugen? Das erfahrt ihr in dieser Besprechung.
Wieviel Gott und wieviel Teufel tragen wir in uns?
Indika spielt in einer alternativen Version des russischen Kaiserreichs im ausgehenden 19. Jahrhundert. Wir spielen die junge, namensgebende Nonne Indika, die in einem orthodoxen Kloster lebt. Zwar sind wir bestrebt, im Gebet und in harter Arbeit hingebungsvoll und demütig auf den Pfaden Gottes zu wandeln, doch scheint es irgendwas zu geben, wegen dem unsere Schwestern zu uns auf Distanz gehen. Indika scheint psychisch labil, immer wieder scheint sie kleinere und größere Aussetzer zu haben, die das Ergebnis früherer Traumata zu sein scheinen – und trotz aller unbedarften Loyalität gegenüber Gott und den Lehren der Orthodoxie sät ihr süffisant der Teufel unentwegt die Zweifel ins Ohr. Was ist schon diese olle Tugend- und die doppelzüngige Frömmigkeit? Macht sie die Moral eines Menschen aus?
Als Indika eines Tages den Auftrag erhält, einen Brief an den Pfarrer Herman zu überbringen, ahnt sie nicht, dass diese Reise zu einem Selbstfindungstrip für sie werden wird. Auf ihrer Reise zur Hauptstadt in einem Land, das von einem nicht näher benannten Krieg heimgesucht wird, begegnet sie Ilja, einem kriegsversehrten, flüchtigen Zuchthaus-Insassen. Ironischerweise behauptet jener, dass Gott zu ihm spreche. Die beiden werden zum ungleichen Duo – wir durchstreifen verlassene, desolate und verschneite Dörfer, wo die Witwen eher pragmatisch ihre ungeliebten toten Ehemänner betrauern; seltsam überhöhte, beinahe monolithische Fabrikanlagen und karge Landschaften. Ziel ist das Kudez, ein religiöses Artefakt, das ein Wunder verspricht. Und Wunder brauchen alle in diesem zerrütteten Land.
Durchbrochen wird die Erzählung von Rückblenden auf Indikas Jugend – auf ihr Verhältnis zu ihrem Vater und ihrer Jugendliebe Mirko. Dieser war offenbar ein „Zigeuner“, der dem strengen Vater verschwiegen werden musste – doch natürlich hat diese Romanze kein gutes Ende genommen. Diese Rückblenden werden in pixeliger Retro-Optik erzählt.
Ansonsten sind es die Zwiegespräche zwischen Ilja und Indika sowie Indika und dem inne wohnenden Teufel, welche die Handlung vorantreiben. In den hervorragend geschriebenen, von literarischer Qualität geprägten Dialogen geht es um die großen Themen: Es geht um Glauben, es geht um Moral, es geht um die Hinterfragung der Polarität von Gut und Schlecht, es geht um den Stellenwert des Selbst, es geht um Sexualität und die Selbstverfügung über den Körper. Ist Indika blasphemisch? Durchaus. Ist Indika Software gewordener Ikonoklasmus? Auf jeden Fall. Aber Indika ist vor allem ein zutiefst humanistisches Werk, das zwischen den Zeilen bitterböse Kritik am Patriarchat der russisch-orthodoxen Kirche ist, an der diffusen Legitimation der „militärischen Spezialoperation“ und an den Diskrepanzen von Moral und Ethik in der gespaltenen russischen Bevölkerung. Tonal schwankt das Spiel zwischen grotesker, surreal überhöhter Tragikomödie und beinhartem Drama. Hier zudem eine Trigger Warnung für Betroffene: Auch sexuelle Gewalt spielt in Indika eine Rolle.
Odd Meter haben zudem eine weirde Meta-Ebene mit hineingebracht, die ich nicht ganz deuten konnte, die aber leicht satirisch Elemente des Videospiel-Mediums ins Narrativ einfügt: Immer wieder finden wir Collectibles in Form von religiösen Ikonen und Reliquien oder können an spezifischen Stellen Segen hinterlassen – Diese bringen Punkte in Pixel Art, die uns auch immer permanent oben in der linken Ecke angezeigt werden. Erreichen wir eine bestimmte Menge, können wir im Level aufsteigen und teilweise Fertigkeiten-ähnliche Attribute freischalten (etwa „Reue“ oder „Demut“), die aber lediglich entweder Multiplikatoren für die weiteren Punkte enthalten, oder aber eine fixe Anzahl dieser vagen Währung. Einen tatsächlichen Mehrwert für den Spieldurchgang konnte ich nicht erkennen, und so heißt es vom Spiel dann auch folgerichtig: „Hör auf Punkte zu sammeln, es ist sinnlos“. Am ehesten wirkt es so, als seien auch die vorgegebenen Spielmechaniken lediglich Dogmen und erwünschte Muster, die uns als Spieler*innen abverlangt werden. Das Spiel deutet in zynischer Weise auf die Sinnlosigkeit, auf die Beschäftigungstherapie, die hinter den Aktivitäten modernen Spieldesigns steckt, vielleicht ein kleiner Seitenhieb in Richtung Ubisoft und Konsorten.
Erzählerisch hat mir Indika enorm gut gefallen; Der nie ganz unbeklemmende Vibe bleibt nachhaltig im Hirn hängen. Am ehesten kritisieren würde ich, dass das Spiel nach lediglich 4 Stunden schon vorbei ist. Die Kürze und Linearität der Erzählung sorgen zwischen den Kapitel für teils abgehackte Übergänge und auch das Ende wirkt eine Spur zu abrupt. Hier hätte ich mir manchmal ein wenig mehr Ausformulierungen gewünscht, auch wenn genau das von den Entwickler*innen sicherlich nicht gewünscht ist.
Der unkonventionellen Inszenierung steht recht gewöhnliches Gamedesign gegenüber
Bis hierhin habe ich vermutlich vermitteln können, dass Indika im besten Sinne viel Mindfuck-Potential offeriert. Auf spielmechanischer Ebene bleibt der Titel aber recht konventionell. In den meisten Fällen folgen wir Indika in der Third Person-Ansicht. Es gibt einige Plattforming-Passagen und ein paar Rätseleien. Die Rätsel sind im Grunde die spielerische Hauptsäule – Es handelt sich hier nicht um bockschwere Kopfnüsse, aber es gibt durchaus einige nette Ideen. Häufig müssen mittels archaischer, mechanischer Apparaturen Wege offengelegt werden, um voran zu kommen. Ab und zu wechseln wir zwischen einer tiefroten, dämonischen und der tristen, realen Dimension, in der sich die Perspektiven jeweils zu verzerren scheinen. Ähnlich wie zum Beispiel in Soul Reaver auf der Astral-Ebene können wir hier in der jeweils einen, oder anderen Ebene bestimmte Plattformen erreichen und so den Weg hinaus bannen.
Kämpfe gibt es hingegen keine in Indika. Es gibt lediglich eine Passage, in der wir vor einem dämonischen, unverhältnismäßig großem Hund fliehen müssen. Das bleibt aber tendenziell der einzige richtige Widersacher, der spielerisch von Bedeutung ist.
Durch den Fokus auf das Erzählerische und die Inszenierung fand ich es jetzt nicht unbefriedigend, dass das Spiel als Spiel relativ minimalistisch daherkommt. Das Spieldesign ist hier klar dem Narrativ untergeordnet. Ich bin üblicherweise kein Fan von sich eher passiv anfühlenden Walking Sims, selbst wenn sie hervorragend erzählt sind wie in Dear Esther. Deshalb war ich dankbar, dass man bei Indika eben immer noch ein wenig solides Spiel drum herum gebaut hat.
Auf die Flashbacks bin ich ja bereits eingegangen: Die sind in putziger Pixel-Optik gehalten, erzählen aber Episoden aus Indikas Jugend, die nicht frei von Gewalt sind. Spielmechanisch setzen diese kleinen Retrolook-Sequenzen ebenfalls auf Vintage Gaming: Da müssen wir mal Frogger-artig mit ab- und auftauchenden Froschköpfe als Plattformen über einen Teich hinweghüpfen oder als Mirko in einem Pac Man-artigen Labyrinth Münzen einsammeln, während uns Indikas wütender Vater verfolgt. Die Sequenzen können beliebig häufig wiederholt werden und sorgen für ein klein wenig Auflockerung. Einen Game Over Screen gibt es im Spielverlauf indes nicht. Die Rücksetzpunkte sind eher großzügig verteilt.
Surrealer und karger Look bei durchwachsener Technik
Die Farbpalette von Indika ist trist – Die Landschaften, die wir durchstreifen, sind in aller Regel in ein schmutziges Schneeweiß getaucht. Auch der Himmel ist weiß-grau; Alles wirkt feucht und kalt. Die Innenräume sind meist wenig ausgeleuchtet, die Kleinstädte wirken wie hinter einem grauen Schleier. In Kapiteln wie der „Fischfabrik“ wirkt alles surreal verzerrt: In manchen Räumen verschlingt uns eine Dunkelheit aus Fischeiern, in anderen hüpfen wir uns durch Räume mit überdimensionalen Fisch und Kaviar-Konserven. Auch die Gerätschaften, mit denen wir operieren, wirken meist irreal überdimensioniert. Farbe kommt eigentlich nur ins Spiel, wenn der Teufel eine Rolle spielt: In den Momenten, in denen die Zweifel an unser Gottesfürchtigkeit Überhand nehmen, wird alles in ein tiefes Rot gehüllt.
Der künstlerische Stil von Indika wirkt stilsicher, gerade weil häufig mit seltsamen Kamerawinkeln- und Perspektiven gearbeitet wird, welche betont unbehaglich anmuten. Zu Beginn wird Indikas Halluzination über eine groteske Fisheye-ähnliche Perspektive extrem verstärkt. Grafisch kann man damit viel kaschieren: Während ich gerade die Charaktermodelle von Indika und den Schwestern qualitativ ziemlich hochwertig finde, wirken die Männer in der Regel wesentlich grobschlächtiger – und zwar auch von den Texturen her. Bei den Landschaften gilt ähnliches: Gerade, wenn man kurz zuvor ein visuelles Brett wie Senua’s Saga: Hellblade II gespielt hat, wirkt in Indika alles deutlich detailärmer. Zugleich fallen die Animationen durch die Bank bei allen Figuren gleichermaßen grob aus und erinnern an Produktionen aus dem PS3- und Xbox 360-Zeitalter. Mir sind keine ganz großen Bugs aufgefallen, zum Ende hin bin ich an einigen Stellen hängengeblieben, konnte mich aber mittels leichtem Buttonmashing „freikämpfen“.
Die Performance wirkt eher durchwachsen. Es gab immer wieder (durchaus auch willkürliche) Framedrops, aber nie so stark, als dass ich das als unzumutbar bezeichnen würde.
Summa Summarum ist die Technik der größte Schwachpunkt des Spiels. Das ist schade, weil ich spielerisch und inhaltlich ein Indika wesentlich spannender finde als etwa besagtes Senua’s Saga, das ähnliche Ambitionen hat, mit großartigen Visuals überzeugt, inhaltlich aber eine Spur flacher wirkt.
Grandioses Sounddesign, tolle Sprecherleistungen
Auditiv ist Indika ein Brett. Gerade die Sprecher*innen-Leistungen sind im Russischen wirklich herausragend. Ich habe testweise auch die englische Sprachausgabe ausprobiert, die auch ziemlich gut ist, aber durch die originale Sprachausgabe wirkt die Atmosphäre nochmal deutlich stimmiger. Die zurückhaltende, aber mitunter trotzig anmutende Stimme von Indika (gesprochen von Anastasia Dyachuk) passt super, auch Ilja ist gut besetzt. Aber gerade Efim Shifrin als leidenschaftlicher Sprecher des Teufels macht einen beängstigend guten Job. Er ist auf der Meta-Ebene der unzuverlässige Erzähler und Indikas innerer Monolog. Er wirkt schleimig, betörend und clever.
Für den Score ist Mike Sabadash verantwortlich, der das Bizarre des Spiels auch in den nicht selten unbehaglichen Soundtrack rüber transportiert: Ambient-Sounds, die naturalistisch wirken, sakrale Töne und seltsame Kompositionen zwischen Chiptune und Industrial gehen hier durchaus mal Hand in Hand. Exemplarisch habe ich hier mal den Track „Joshua“ beigefügt, der ihr euch nachfolgend anhören könnt. Gäbe es den Soundtrack auf Vinyl, ich hätte durchaus Bock drauf.
Fazit:
Indika ist gerade mit Blick auf’s Storytelling ein wuchtiges Machwerk, das eine Menge zu sagen hat. Tonal herausfordernd, oszilliert der Titel zwischen lakonischer Melancholie, brutaler Gewalt, zartem Coming-of-Age und galligem Humor. Indika ist ein Abgesang auf das Dogma im spirituellen, religiösen, politischen aber auch popkulturellem Sinne. Audiovisuell bringen Odd Meter dieses Anliegen hervorragend zur Geltung. Spieldesign und Technik hinken dem zwar hinterher, für meine Spielerfahrung empfand ich aber diese Aspekte als zweitrangig. Deswegen kann ich Indika all denen empfehlen, die sich auf die Kunst im Videospielmedium einlassen wollen.
Indika kaufen:
Im PlayStation Store [PlayStation 5]
Im Microsoft Store [Xbox Series S|X]
Indika [PlayStation 5]
Grafik / Art Style - 7.4
Story / Inszenierung - 9.1
Technik - 5.9
Umfang - 6.6
Spielspass - 8.5
7.5
Indika ist ein poetischer und schwergewichtiger Indie-Monolith - Wütend und melancholisch. Dem literarischen Storytelling und künstlerischen Stil hinken recht gewöhnliches, aber solides Gameplay und durchwachsene Technik hinterher. Dennoch eine Empfehlung für Leute, welche nach der Kunst im Videospiel suchen.