Nobody Wants to Die hätte ein wesentlich umfangreicheres Marketing-Treatment seitens Publisher PLAION verdient. Bis zur tatsächlichen Veröffentlichung hatte ich den Titel nämlich gar nicht so richtig auf dem Schirm, obwohl die Ankündigungstrailer ziemlich vielversprechend aussahen. Ich bin mir recht sicher, dass ich damit nicht alleine bin. Verdient hätte es das düstere Debüt der im polnischen Breslau beheimateten Entwickler Critical Hit Games hingegen allemal, denn die vor allem visuell ansprechende Genre-Mischung aus sehr traditionsbewussten Cyberpunk- und Film Noir-Versatzstücken dürfte mit großer Sicherheit ihre Abnehmer finden, gerade aufgrund des fairen Budget-Preises von 25 EUR. Seit letzter Woche ist das Ding nun draußen. Wir haben uns die Xbox Series S|X-Fassung genauer angeschaut, um unsere Eindrücke zu Nobody Wants to Die festzuhalten. An dieser Stelle ein Dankeschön an PLAION für die Bereitstellung des Review-Keys.
Memento Immortalitatis… Unsterblichkeit im Kapitalismus
Erzählerisch hat Nobody Wants to Die eine große Nähe zu Altered Carbon – Das Unsterblichkeitsprogramm. Der Cyberpunk- und Detektiv-Roman des Briten Richard Morgan wurde 2018 als ziemlich starke Netflix-Serie umgesetzt und 2020 nach einer semierfolgreichen zweiten Staffel wieder auf Eis gelegt. Die Parallelen zwischen Altered Carbon und Nobody Wants to Die sind bemerkenswert. Nobody Wants to Die spielt im New York City des Jahres 2329 und damit im selben Jahrhundert, in dem auch Altered Carbon angesiedelt ist.
In dieser dystopischen Zukunft ist die Unsterblichkeit ein verpflichtendes Gebot. Für einen mehr oder weniger hohen Obolus, den wir im Rahmen entsprechender Gesetzgebungen ab dem 21. Lebensjahr zu entrichten haben, wird uns ein Körper als Abo bereitgestellt, auf den unser Bewusstsein im Falle des Ablebens transferiert wird – bis in alle Ewigkeit oder bis wir uns die neuen Körper nicht mehr leisten können. Die soziale Kluft in diesem kapitalistischen Moloch der Zukunft ist naturgemäß nicht überwunden worden, sondern durch dieses Programm tatsächlich noch in erheblichem Maße verschärft worden. Während sich weniger gut betuchte Leutchen mit den übriggebliebenen Körpern von Junkies, von Alten und Kranken abmühen müssen, die sich die Ewigkeit nicht leisten konnten, dürfen sich die Eliten in ihren schönen Alabasterkörpern durch die Welt bewegen.
Altered Carbon hatte seinerzeit eine ähnliche Prämisse: Das Bewusstsein wurde in der Welt des Romans auf sogenannten „kortikalen Stacks“ gespeichert, die in geklonte Körper, sogenannte „Sleeves“, implementiert wurden. Die reichste Klasse der Gesellschaft, die sogenannten „Meths“ (in Anlehnung an Methusalem), lebten faktisch ewig, da sie immer wieder die Möglichkeit eines Backups des Stacks und Zugriff auf neue Sleeves hatten.
Auch in „Nobody Wants to Die“ gilt: Je reicher du bist, desto höher deine Lebensspanne. Die Technologie zur Unsterblichkeit verändert auch die Haltung zum Tod, bringt etwa neue sexuelle Fetische mit sich. Im Spiel gibt es einen Tatort, der ganz offensichtlich Schauplatz einer extravaganten Orgie war. Im Zuge dessen erfahren wir, dass die Tötung während der fleischlichen Ausschweifungen ein neuer Kink in den höheren Sphären der Gesellschaft zu sein scheint. Konsequenzen gibt es ja im Grunde auch keine, denn der nächste Körper steht ja gegen gutes Entgeld bereits zur Verfügung.
Klassische Noir Detektiv Story
In einer Welt also, in der Mord gar nicht so ohne weiteres möglich ist, passiert das Undenkbare: Ein Serienmörder geht um und hat es scheinbar ganz konkret auf die Mächtigen abgesehen: Das Bewusstsein ist an eine Substanz namens „Ichorit“ gekoppelt, wird der „Ichoritkern“ des Körpers vollständig zerstört, bedeutet das den wahrhaftigen Tod. Es beginnt mit dem Mord an dem reichen Philanthropen Green, dessen Tod wir anfangs untersuchen. Unsere Partnerin Sara steht uns bei den Ermittlungen hilfreich zur Seite, meist aus der Ferne. Doch irgendwann schaltet sich ein mysteriöser Fremder dazwischen, der möglicherweise der ominöse Killer sein könnte.
Wir schlüpfen in die Rolle des griesgrämigen Detektivs James Karra, im früheren Leben ein Profi Baseball Spieler, der so ziemlich alle Trademarks eines stoischen Film Noir-Antihelden vereint:
Zynischer Blick auf die Welt? Check!
Tote Ehefrau, über die er nie hinweggekommen ist? Check!
Alkoholiker, der seinen Flachmann immer parat hat? Check!
Tragischer Verlust des Partners, an dessen Tod man sich selbst die Schuld gibt? Check!
Genialer Ermittler, der aber aufgrund seiner Probleme mit Autorität ein eher schwieriges Verhältnis zu den Vorgesetzten hat? Check!
Bekommt wider Willen eine Partnerin zur Seite gestellt. Aus anfänglicher Hassliebe wird ein zunehmend innigeres Verhältnis? Check!
Das sind alles Tropes, die es schon in der einen oder anderen Form gegeben hat. Das recht klassische Whodunnit ist aber weitgehend so gut geschrieben, dass es über die 5-7 Stunden locker bei der Stange zu halten vermag. Die Dialoge sind angenehm geschliffen und bewusst pulpig gehalten, erinnern an düstere Groschenromane oder oft auch an die Monologsequenzen aus Max Payne, die eine ähnliche Ästhetik anvisierten. Die Charakterzeichnung ist zwar nicht derart bodenständig geraten, dass man den Figuren eine wirkliche Tiefe zumutet. Momente, in denen wir aber zum Beispiel Sara den Geschmack von „echter Schokolade“, in dieser Zukunft eine echte kostbare Rarität, beschreiben sollen, machen die Schicksale aber trotzdem nahbar.
Trotz der eher konventionellen Cyberpunk-Vision wirft Nobody Wants to Die aber dennoch die eine oder andere fast schon philosophische Fragestellung oder das ein oder andere Gedankenexperiment auf, die ein Blade Runner oder ein Altered Carbon vielleicht noch nicht gestellt haben. Die Story ist eine Kernsäule des Spiels, bringt einige mehr oder weniger berechenbare Twists mit sich, wie so oft gibt es beim Finale kein extrem befriedigendes Pay Off, aber dennoch haben hier Critical Hit Games summa summarum mehr als solide Arbeit geliefert.
Retrofuturistischer Art Style
Vom Look her setzt Nobody Wants to Die auf einen retrofuturistischen Ansatz, der einerseits die üblichen dystopischen Cyberpunk-Versatzstücke mitbringt (d.h. dauerverregnete Megametropole, flickernde Neonreklamen, ausschließlich synthetische Nahrung, fliegende Autos, hoch entwickelte Augmented Reality), das Ganze aber andererseits mit einer 1940s/1950s-Ästhetik kombiniert. Mode, Popkultur und Produktdesigns sind ganz klar an die Zeit angelehnt, in welcher der US-amerikanische Film Noir seine Blütezeit hatte.
Am ehesten fällt das bei den fliegenden Autos ins Auge, die häufig an alte Cadillacs erinnern. Aber auch die cartoonigen Reklamen erinnern an den „Ligne Claire“-Style, den auch ein Fallout immer wieder bemüht. Die Art Deco-Elemente in Architektur und bei den Werbeflächen erinnern Spieler*innen vermutlich am ehesten an Bioshock. Der Moment, in dem wir erstmalig einen Blick auf das New York des 24. Jahrhunderts blicken, erinnert nicht unwesentlich an die Eingangssequenz aus Bioshock, in welcher wir in die Tiefen von Rapture hinabgleiten.
Diese visuelle Mischung aus 1920er Art Deco, Ligne Claire und Industrial Design aus den 1940er/1950er und eben dystopischer Post Moderne macht tatsächlich Laune und funktioniert gut, auch wenn man sich künstlerisch keine allzu großen Extravaganzen erlaubt hat.
Lineare und durchgehend moderierte Walking Sim mit kleineren Investigativ-Elementen
Spielerisch ist Nobody Wants to Die vor allem eine Walking Sim. Aus der Ego-Perspektive bewegen wir uns durch die verschiedenen Areale, die in der Regel die Tatorte sind.
Wir schauen uns Objekte und Indizien an, welche die Welt vertiefen und uns Überblick über den Plot geben. Ein Brief, ein Foto, eine Visitenkarte – die Interactibles sind recht klassisch gehalten. Entweder gibt es dann einen kurzen Monolog von James zu hören, oder wir diskutieren unsere Erkenntnisse mit unserer Partnerin Sara.
Während reinrassige Walking Sims wie Gone Home, Dear Esther oder What Remains of Edith Finch in erheblichem Maße über das Environmental Storytelling funktionieren, und sonst gameplaytechnisch eher reduziert daherkommen, wirkt Nobody Wants to Die aber irgendwie moderierter, weil man regelrecht durch den Plot geführt wird, und damit auch „actionreicher“.
Es gibt grundsätzlich keine Möglichkeit zu „verlieren“, es gibt kein Kampf- oder Upgradesystem und auch keine Puzzles, die NICHT oder nur mit Guide bewältigt werden könnten. Das dürfte reine Story-Spieler freuen, denn das macht den Titel zu einer recht entspannten Sache mit wenig Frustrationspotential.
Was das Spiel trägt, ist der (vergleichsweise simple) Investigativ-Modus: An den Tatorten können wir die Tatverläufe mittels eines Gadgets rekonstruieren, hier können wir den Tathergang chronologisch „bearbeiten“, vor- und zurückspulen. Wichtige Stellen werden uns farblich mit einem gelben Streifen auf dem Gadget markiert. Im Raum bilden sich um die wesentlichen Stellen dann kleine Kuppeln, die den Radius des Untersuchungsgegenstandes eingrenzen. Allgemein erinnert die Rekonstruktion stark an die „Braindances“ aus Cyberpunk 2077, teilweise auch an die Rewind-Mechaniken aus Life is Strange.
Blutspuren und andere Liquide können wir darüber hinaus mit Schwarzlicht sichtbar machen, mit dem Röntgenscanner können wir Einschussbahnen auf bzw. in Opfer oder tiefliegende Kabel von Stromquellen sichtbar machen etc. – Über Fotografien sammeln wir Hinweise zu Opfern. Allgemein erinnern die ganze Investigativ-Mechanismen an bereits existierende Titel wie die Batman Arkham-Trilogie, Condemned: Criminal Origins, oder an die Like A Dragon-Spin Offs (Lost) Judgment, die das Ganze in der Vergangenheit ähnlich gehandhabt haben. Man wird ordentlich an der Hand geführt, richtig große Aha-Momente durch das Bewältigen von knackigeren Kopfnüssen gibt es nicht, dafür bleibt die Geschichte aber angenehm flowig. Zuweilen ist der Rhythmus der Gameplay-Mechaniken aber intuitiv nicht ganz so passend gewählt. Nach mehrmaligen Wiederholungen der „Rekonstruktions“-Passagen kamen mir diese irgendwann arg repetitiv vor. Wenn man kein Problem mit dem Genre hat, oder sich spielerisch eher berieseln lassen möchte, ist das okay, aber es dürfte definitiv ein Turn-Off für einige Spieler*innen sein.
Daheim im eigenen Apartment können wir auf Basis der Beweise und Indizien von den Tatorten Hypothesen zum Tatverlauf bilden. Das geschieht ebenfalls über Augmented Reality Mechaniken. Auch hier können wir im Grunde keine falschen Hypothesen bilden, da uns das Spiel bei einer falschen Verknüpfung bereits darauf hinweist, dass diese keinen richtigen Sinn macht. Das Spiel liefert auch die Erklärung, wo der Denkfehler liegt. Auch hier also: Man kann kritisieren, dass das Spiel einem nicht mehr zutraut, aber dafür spielt es sich auch in einem Rutsch durch.
Das heißt aber nicht, dass die eigenen Taten vollständig konsequenzlos bleiben: Immer wieder gibt es bei Dialogen die Möglichkeit unterschiedliche Antworten zu geben. Diese haben ebenso Einfluss auf das Ende, wie bestimmte In-Game Handlungen. Ob wir nun bei einem Tatort die Flasche mit dem hochwertigen Scotch mitgehen lassen oder nicht, kann sich durchaus auf das Finale auswirken. Es gibt zwei Enden (ein „gutes“ und ein „schlechtes“) sowie eine Voicemail-Nachricht, die im Abspann abgespult wird. Will man beide Enden und somit auch beide Achievements in einem Durchlauf erhalten, muss man ein bisschen mit dem Cloud-Speicher oder einem USB-Stick tricksen, um die Savegames entsprechend zu präperieren.
Zuweilen grandiose Visuals, toller Soundtrack und hervorragende Sprecher
Die audiovisuellen Schauwerte sind das große Highlight von Nobody Wants to Die. Für ein Budget-Indie-Game haben Critical Hit Games hier wirklich Erhebliches geleistet. Das Spiel läuft auf der potenten Unreal Engine 5 und das merkt man auch. Das ganze Weltdesign, die Lichtstimmung, die Partikeleffekte während der Ermittlungsphasen schauen hervorragend aus. Ich gehe sogar so weit, dass ich sagen würde, die grafische Repräsentation dieser kaputten Welt sieht mitunter weniger billig aus als in der Netflix-Adaption von Altered Carbon. Kritisieren würde ich hingegen am ehesten die männlichen Charaktermodelle, die in den Gesichtern recht detailarm, ansonsten aber einfach generisch ausschauen.
Nicht so ganz gefallen haben mir außerdem die „Idle Animations“ des Hauptcharakters. Es sieht ein bisschen merkwürdig an, wenn er sich etwa die Zigarette anzündet, sie an den (nicht sichtbaren) Mund in der Ego-Perspektive heranführt und man einfach sieht, dass da nichts glimmt und dampft. Die Hände sehen ein bisschen zu faltig aus, und wenn man an sich selbst herunterschaut, wirkt man schlaksiger als im Spiegel. Das sind aber nur kleine Details und letztlich meckere ich hier auf hohem Niveau.
Der Soundtrack von Mikolai Stroinski (mitunter auch für den Soundtrack von The Witcher 3 verantwortlich) ist nicht sonderlich originell gewählt, aber er passt perfekt zum Noir-Vibe des Spiels: Wir haben hier eine klangliche Untermalung, die einerseits auf dramatische Streicher setzt, andererseits auf Doom Jazzige Passagen. Neben Suspense-erzeugenden Streichereinlagen und loungigen Pianoklängen gibt es auch kreischende Saxophone und bassige Trompeten, die sich ins Nichts winden – Dezentes Schlagzeug, dass sich durch die Ghost Notes trippelt – ein tiefer, grummelnder Bass, der stoisch und wissend den Rhythmus angibt. Passt und erinnert ein ganz klein wenig an „Batman: The Animated Series“!
Auch die englischsprachigen Sprecher*innen machen allesamt einen (sehr) guten Job: Phillip Sacramento dürfte ggf. SMITE-Fans als Stimme von Ullr bekannt sein. Er verleiht James Karra eine Noir-typische kernig-tiefe Stimme, die vom Leben gezeichnet scheint. Auch Keaton Talmadge, die Sprecherin von Sara Kai, hat Videospiel-Erfahrung: Sie sprach u.a. bei Warframe und Cloudpunk. Lediglich der Serienkiller wird von jemanden gesprochen, der hier quasi sein Debüt als Voice Actor liefert, Jonny Loquasto. Der war witzigerweise mal Ansager beim WWE-Wrestling.
Fazit:
Nobody Wants to Die wird vielleicht nicht das nachhaltigste, im Kopf bleibende Hit-Spiel werden. Dafür setzt es sich zu sehr aus bekannten Elementen zusammen, die bereits fest in der Popkultur verankert sind. Dennoch hätte es wesentlich mehr Promotion verdient. Denn vor allem audiovisuell und erzählerisch ist das Debütwerk der polnischen Critical Hit Games ziemlich stark, erinnert ganz erheblich an Altered Carbon, wirft aber durchaus eigenständige (ethische und philosophische) Fragestellungen auf. Spielerisch muss man dem Walking Sim-Genre nicht ganz abgeneigt sein. Allerdings find ich es zugänglicher und spielmechanisch interaktiver als so manche Titel wie Gone Home, Dear Esther, The Vanishing of Ethan Carter und Konsorten. Die Investigations-Mechaniken erinnern teilweise an Spielelemente aus Cyberpunk 2077 und der Batman Arkham-Reihe und das sind ja nun nicht die schlechtesten Referenzen. Allerdings, das kann man kritisieren, geht Nobody Wants to Die ein bisschen zu repetitiv mit seinen wenigen Mechaniken um. Man tut im Wesentlichen immer dasselbe und kann auch nicht wirklich scheitern. Das schmälert ein bisschen die Dringlichkeit der Handlung. Wer aber was mit Cyberpunk und pulpigen Film Noir-Elementen anfangen kann, Bock auf eine schön erzählte Crime Story hat, und der für 25 EUR ein paar nette Stunden verbringen will, der ist hier genau richtig.
Nobody Wants to Die kaufen:
PlayStation Store [PlayStation 5]
Microsoft Store [Xbox Series S|X]
Nobody Wants to Die [Xbox Series S|X]
Grafik / Art Style - 8.7
Story / Inszenierung - 8.9
Technik - 8.5
Umfang - 7.6
Spielspass - 7
8.1
Vor allem audiovisuell und erzählerisch starkes Debüt von Critical Hit Games. Spielerisch eine entspannte Walking Sim mit Investigativ-Mechaniken, die manchmal zu repetitiv und auf Schienen wirkt.