Game Review: Videoverse für PC – Ein nostalgisch-wehmütiger Blick auf das frühe Web 2.0 und dessen digitale Beziehungsdynamiken

Digitale Liminal Spaces

Kennt ihr dieses seltsam melancholische Gefühl, das einen beschleicht, wenn man aus irgendeinem unempfindlichen Grund alte Freundeslisten bei Online-Plattformen wie Xbox Live oder im PlayStation Network durchforstet und dabei alte „Karteileichen“ entdeckt, User, die seit Jahren nicht mehr online waren?

Nutzer: innen des Online-Service, die mal irgendwann vor Jahren, möglicherweise war man selbst noch Schüler*in zu dem Zeitpunkt, regelmäßiger Teil des Alltags waren – Man loggte sich ein, man verbrachte im gemeinsamen Lieblingsspiel Zeit miteinander, quatschte regelmäßig via Voice Chat miteinander, verabredete sich – und manchmal entstanden daraus regelrechte Freundschaften; Man wusste manchmal um das Gefühlsleben des Anderen ohne das Gegenüber je so richtig gesehen zu haben. Über allem hing aber immer die Wolke der digitalen Vergänglichkeit: Diese Freundschaften hatten, obwohl nicht weniger tief als ihre IRL-Pendants, gleichzeitig etwas ziemlich Flüchtiges an sich. Von einem Tag auf den anderen konnte der intensive Kontakt beendet werden: Sei es durch einen Systemwechsel zur neuen Konsole oder zur neuen Social Media-Plattform, durch Zäsuren in den persönlichen Biografien, durch Einstellung eines Service etc. –  Die Gründe für den Offline-Status der digitalen Freunde sind und waren vielfältig und divers in ihrer existenziellen Bedeutung: Ähnliches lässt sich wohl auf alle anderen Web 2.0 Plattformen dieser Zeit ummünzen: Egal ob obskure Foren, Knuddels, Habbo Hotel, MySpace, SchülerVZ, MSN, ICQ, die DreamArena vom SEGA Dreamcast oder das spätere MiiVerse – die Struktur von Web 2.0 war immer in der engen Vernetzung ihrer User*innen und der Community begründet. Doch mit der limitierten Halbwertzeit der Online-Plattformen hing immer auch ein Damoklesschwert über den sozialen Beziehungen, die sich im Laufe des Zyklus herausgebildet haben.

Um dieses spezifische Gefühl geht es in der Visual Novel Videoverse von Kinmoku [eine kleine Sailor Moon-Referenz] aka Lucy Blundell, eine in Frankfurt lebende Britin, die bereits mit ihrem Debüt One Night Stand von 2016 eine sehr menschliche und authentische Visual Novel über den meist etwas weirden Morgen danach veröffentlichte. Warum mich Videoverse ziemlich abgeholt hat, erfahrt ihr in dieser Review.

Fiktionale Nostalgie: 2003 – weißt du noch, damals, das Kinmoku Shark?

In Videoverse begeben wir uns in ein alternatives Jahr 2003: Das spiegelt sich primär in der alternierenden Gaming Geschichte dieser Realität. Wir spielen Emmett, einen 15-jährigen Jungen, der begeisterter Nutzer des fiktiven Gaming Systems Kinmoku Shark ist. Das 1998 erschienene Shark System ist hier ein semi-portabler Handheld, der ausschaut wie ein klobiger Nintendo DS mit zwei Ports für externe Gamepads: Mit monochromen Dot Matrix Display ähnelt er eher den cartridge-basierten 8-Bit Handhelds der 1990er, vor allem natürlich dem good, old Game Boy. Gleichzeitig bringt er aber ähnlich dem realen Nintendo DS ein Touch-Screen, Stylus, eine rudimentäre Kamera sowie umfangreiche Internet-Fähigkeiten mit. Internet gibt es beim Shark aber nur via Ethernet Kabel aus der Buchse, und nicht über modernes WLAN. Klare Inspiration für den Online-Service dürfte hier vermutlich die DreamArena für SEGAs Dreamcast gewesen sein, die zuuuufälligerweise auch 1998 an den Start ging 😊

Videoverse_Screenshot1 - Kinmoku Shark

Die fiktive Konsole „Kinmoku Shark“ wirkt wie ein klobiger Nintendo DS in nicht ganz so handlichem Format – Die Videospielmagazine beinhalten oft witzige Referenzen @ Kinmoku Games

Der Kinmoku Shark bringt eine umfangreiche Community-Plattform mit: Das namensgebende Videoverse. Das Videoverse ist auch Hauptschauplatz der 8-Kapitel umfassenden Geschichte. Denn hier pflegt Emmett seine Freundschaften, hier ist er Teil einer eingeschworenen Online-Clique, die das Videoverse liebt und am Laufen hält, hier kann er über das integrierte Touchpad des Geräts seinen künstlerischen Ambitionen ausleben, Fanart zeichnen und diese Schwarz/Weiß-Bildchen in der Online-Community teilen, ganz so, wie man es vom MiiVerse auf dem 3DS kennt. Und hier erlebt Emmett auch seine erste bittersüße Romanze.

Videoverse_Screenshot4 Videoverse Homepage

Die Videoverse Homepage erinnert an bekannte Online-Plattformen wie Xbox Live, PSN oder Miiverse @ Kinmoku Games

Emmett ist ein leidenschaftlicher Mensch, der aber auch ganz klar aus wohlsituierten Verhältnissen stammt. Er hat britische Wurzeln und wohnt in Frankfurt am Main, und dieses kulturelle Dazwischen ist auch immer wieder mal Thema im Spiel. Er träumt davon, Grafik Designer in der Videospielindustrie zu werden. Hier wird die Autorin auch definitiv Elemente der eigenen Biografie verarbeitet haben. Zwischen den einzelnen Episoden innerhalb des Videoverse gibt es einerseits Ausschnitte aus dem ebenso fiktiven Rollenspiel Feudal Fantasy, in welcher die epische Geschichte des Ninjas und Antihelden Hattori Hanzo in der Sengoku Ära erzählt wird und die motivisch mit den Dramen in Emmets Leben korrespondiert, andererseits bekommen wir immer wieder Einblicke auf Emmetts Schreibtisch, die uns Hinweise auf sein Leben liefern. Da liegen dann gerne die typischen Videospiel Fachmagazine der 2000er Jahre, Notizblöcke mit kleinen To-Do-Listen, oder bekannte Softdrinks in ihren damaligen Dosendesigns rum.

Videoverse_Screenshot12 - Feudal Fantasy

Unser Hauptprotagonist Emmett ist großer Fan des japanischen Rollenspiels „Feudal Fantasy“ @ Kinmoku Games

In den verschiedenen Kanälen des Videoverse ist viel los: Die Kern Clique von Emmett besteht aus dem ebenfalls aus Deutschland stammenden Markus (Username: MarKun666), den er bereits auf einer Videospiel EXPO in Persona treffen durfte, aus dem britischen Großmaul Zalor oder Zal, aus dem Mittdreißiger Nobu aus Irland und der Portugiesin Lorena. Die einzelnen Channels, die wir mit unseren Beiträgen beackern dürfen, drehen sich um Kinmoku Hardware, Memes und Herzschmerz im Off-Topic Bereich, künstlerische Werke im Artcorner sowie Feudal Fantasy im gleichnamigen Kanal. In den einzelnen Forenabschnitten wird quer durch alle Alters- und Gesellschaftsschichten fleißig gefachsimpelt, gestritten, philosophiert, geflirtet, gememt – Kurzum: Videoverse ist ein Mikrokosmos, der vor Leben pulsiert.

Videoverse_Screenshot13 Community

Das Videoverse ist ein Ort des Austauschs – Hier hat sich wohl Entwicklerin Lucy Blundell selbst im Spiel verewigt @ Kinmoku Games

Für Emmett gibt es im Laufe des Spiels zwei besondere Zäsuren: Eines Tages taucht mit Vivi eine ominöse Userin ohne Avatar auf, die offenbar auch Feudal Fantasy liebt und großartige Artworks zum Spiel postet. Grund genug für Emmett, die Person hinter dem Namen zu kontaktieren. Doch mit dieser neuen Beziehung beginnt ein emotional aufwühlender Parforceritt. Dieser bekommt zusätzliche Dringlichkeit, da Kinmoku die Videoverse-Server abschalten will. Immerhin ist mit dem Kinmoku Dolphin und dem kostenpflichtigen Ocean Online Service bereits ein Nachfolger am Start. Die Zeit rennt also – werden die Freundschaften im Videoverse überdauern? Oder verblassen die Bekanntschaften mit dem zunehmenden Ausblassen des betagten Services.  

Videoverse fühlt sich durch das authentische Writing ziemlich parasozial an

Videoverse ist wirklich hervorragend geschrieben. Dass Lucy Blundell menschliche Interaktion und die Feinheiten des Miteinanders extrem gut verpacken kann, hat sie schon mit One-Night-Stand gezeigt. Bei Videoverse hat sie das Ganze aber noch viel umfassender und weitschweifender realisiert. Nach einiger Zeit habe ich einen engen Bezug zu den Charakteren aufbauen können. Das schöne daran ist, dass die Figuren durch und durch authentisch wirken: Videoverse ist ein zu Beginn noch halbwegs moderiertes Abbild der Realität – Da gibt es Ü30-User, die durch ein Bewerbungsgespräch gerasselt sind, da gibt es Schüler*innen, die von ihren Klassenkameraden gemobbt werden; Queere Personen, die mit ihrem Outing strugglen, regulären Herzschmerz (unser Kumpel Zalor etwa befindet sich in einer mehr oder minder toxischen Beziehung mit seiner Freundin Tifa-Chan) und andere Freuden und Traurigkeiten des alltäglichen Lebens. Natürlich gibt es aber auch einige Trolle, die anderen den Spaß verderben wollen und mit Beleidigungen um sich schmeißen. Derlei Beiträge können wir als virtuelle White Knights konsequent melden. Zu Vivi, anfänglich ein Mysterium, bauen wir im Laufe der Geschichte eine tiefe Freundschaft auf, die immer wieder aber auch durch Insensibilitäten Emmetts zurückgeworfen wird. Und auch hier zeigt sich – Die Charakterzeichnung ist nie einseitig: Die Hauptfiguren tragen zwar alle das Herz am richtigen Fleck, aber sind nicht frei von Fehlern. Emmett agiert trotz seines freundlichen Wesens oft unbeholfen, naiv und mitunter auch ziemlich taktlos. Die Missverständnisse und persönlichen kleinen (und großen) Dramen wirken durch und durch aus dem Leben gegriffen. Das Videoverse nimmt dabei permanent auf unsere Präsenz Bezug und wir können auf die verschiedenen Beiträge unterschiedlich reagieren und so das Videoverse gewissermaßen mitformen. Definitiv können wir hier Beziehungen in unterschiedliche Richtungen lenken, die Auswirkungen auf das Ende haben. Das bedeutet aber auch: Um alle Handlungsstränge, diese werden freundlicherweise auf unserer To-Do Liste vermerkt, zu verfolgen, müssen wir uns recht konsequent auf die fiktive Online-Plattform einlassen. Verpassen wir einen wichtigen Beitrag, verpassen wir möglicherweise die Fortsetzung einer Nebengeschichte. Das sorgt einerseits für eine gewisse Fomo, andererseits für eine intimere Form der Immersion.

Videoverse_Screenshot10 Zal

Der aus Newcastle (upon Tyne) stammende Zal nutzt gerne Geordie-typischen Slang @ Kinmoku Games

Schön ist auch, dass Lucy Blundell die Konversationen, die im Videoverse geführt werden, immer fein nuanciert: Sind wir oder unsere Gesprächspartner aufgeregt, neigen wir zu Vertippern. Schämt sich Emmett für eine Nachricht, löscht er sie fix, und tippt eine neue. Von Zal wissen wir, dass er aus Newcastle upon Tyne kommt, weshalb zu seinem üblichen British English noch ordentlicher Geordie-Slang durchkommt. In Konversationen mit Markus nutzen wir immer wieder auch vereinzelte deutsche Wörter. Unterschiedliche User*innen nutzen unterschiedlich oft spezifische Emojis. So fühlen sich die einzelnen Gespräche immer sehr personalisiert an.

Videoverse_Screenshot8 Emmett things about Vivi

Emmett versucht das Geheimnis um die mysteriöse „Vivi“ zu lüften – Abseits des Videoverse gibt es realistische Bebilderungen im Manga-Stil @ Kinmoku Games

Auch die Themen-Komplexe, die in Videoverse angerissen werden, sind vielfältig: Da werden Sachen wie Ableismus verhandelt, LGBTQ+ Bezüge sind ohnehin sehr konsequent präsent in Videoverse, und mitunter muss der privilegierte Emmett auch seine Haltungen reflektieren und einsehen, dass sich vielleicht nicht jeder einfach so eine neue Konsole leisten oder zu Weihnachten wünschen kann.

Für die Nerds wiederum sind überall Easter Eggs versteckt, manche sind offensichtlich, manche weniger. Ein Feudal Fantasy ist ziemlich klar an Final Fantasy angelehnt, Zals Freundin Tifa-Chan hat ihren Username nicht umsonst nach der Final Fantasy VII-Figur benannt. Aber auch der Name des Sharks und des Nachfolgemodells Dolphin ist eine klare Anspielung auf den Entwicklungsnamen des damaligen Nintendo Gamecube. Derlei Anspielungen, mitunter auch Referenzen auf das eigene Werk One-Night-Stand, gibt es an allen Ecken und Enden und es macht Spaß, diese kleinen Querverweise zu entdecken.

Videoverse_Screenshot14 Vivi Videochat

Irgendwann gibt es den ersten zaghaften Videochat mit Vivi @ Kinmoku Games

Zu guter Letzt: Die Erzählung von Videoverse ist eine Retrospektive des mittlerweile erwachsenen Emmett. Zwischen den Kapiteln gibt es immer wieder eine kleine Exposition und Reflektion über das Geschehene, die auch vertont ist. Durch diesen narrativen Kniff hat mir Videoverse mitunter ein ähnliches nostalgisch-wehmütiges Gefühl gegeben, wie Filme und Serien á la Wunderbare Jahre und Stand By Me – nur eben im digitalen 21. Jahrhundert.

Toller Art Style, Toller Soundtrack

Auch der künstlerische Stil von Videoverse hat mich ziemlich begeistert: Die Feudal Fantasy-Cutscenes und die UI des Videoverse sind in einem uniquen 1-Bit Pixel Style gehalten. Die Online-Plattform ist dabei mit ihren Werbebannern und Menüs ziemlich authentisch gestaltet. Witziges Easter Egg: Geht man beim Login-Menü auf das „About“-Feld, werden einem die fiktiven Specs des Gerätes angezeigt. Besonderes Highlight sind die niedrig aufgelösten, monochromen Webcam-Sessions mit unserem Inner Circle: Das Gefühlsleben der Figuren wird visuell sehr griffig bebildert. Gerade die Webcam-Sessions mit Vivi zeigen, wie man Emotionen visualisieren kann, ohne dass man abgegriffene Klischees bedient.

Videoverse Notes

Die Help List hilft uns ein bisschen, die Nebenstränge in Videoverse zu verfolgen @ Kinmoku Games

Außerhalb der Videoverse-Sequenzen greift Blundell auf einen realistischen, mangaesquen Stil zurück, der mir außerordentlich gut gefällt. Man merkt, dass sie sich überall Gedanken gemacht hat, wie man das Zeitgefühl der frühen 00er Jahre auf den Bildschirm bringen kann. Die Videospiel Magazine sind in typischen Layouts der damaligen Zeit gehalten, die Fanta- und Schwipp Schwapp-Dosen haben den frühen Look von vor 20 Jahren und den Shark selbst könnte man auch definitiv irgendwo in dieser Zeit zwischen 1998 und 2005 verorten.

Videoverse_Screenshot15 Dolphin

Es wird bittersüß… @ Kinmoku Games

Für den Soundtrack ist Clark Aboud (u.a. Slay the Spire) verantwortlich, der mit seinen eingängigen Chiptune-Soundscapes und den relaxten, aber repetitiven Melodien für einen sehr meditativen Vibe sorgt. Das hat mich trotz aller Eigenständigkeit dann tatsächlich ein bisschen an die Musikuntermalung des Miiverse und der Wii erinnert. Ich denke, das sollte hier auch bezweckt werden. Den sehr gelungenen Soundtrack kann man gegen einen kleinen Obolus hier herunterladen: Klick 

Fazit:

Videoverse ist ein zutiefst menschliches und irgendwie auch melancholisches Indie-Game, welches den rohen Charme früher Web 2.0 Netzwerke gekonnt aufgreift, um zu reflektieren, welchen Impact das Internet auf zwischenmenschliche Beziehungen hat. Die Charakterzeichnungen der verschiedenen Personen, die im fiktiven Netzwerk Videoverse unterwegs sind, sind vielschichtig und authentisch und schneiden dabei eine Menge gesellschaftlich relevante Themen an, die aber von Kinmoku alias Emily Blundell mit dem nötigen Maß Empathie behandelt werden. Und insbesondere auch die Geschichte des 15-jährigen Emmett, der mit Vivi eine wichtige Bezugsperson im Internet findet, hat eine besondere Dringlichkeit inne. Dabei funktioniert Videoverse auch künstlerisch: Zwischen schön gestalteter 1-Bit Pixel- und realistischer Manga-Optik kann Videoverse das Zeitgefühl der frühen 00er Jahre schön transportieren. Die meditativen Klänge von Clark Aboud tragen ihr Übriges dazu bei. Konnte Kinmoku mich bereits mit dem zärtlichen One-Night-Stand überzeugen, so ist Videoverse nochmal eine andere Hausnummer. Ich bin sehr begeistert.

 

Bei Steam kaufen: 

 

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Soundtrack by Clark Aboud bei Bandcamp kaufen

Videoverse [PC]

Grafik - 7
Story - 9.5
Technik - 8.5
Umfang - 6.5
Spielspass - 9.5

8.2

Wunderschön geschriebene Visual Novel, die klug, pointiert und ungemein authentisch den Einfluss des Internets auf unser Miteinander reflektiert und dabei einen nostalgischen Blick auf die frühen 00er Jahre wirft. Videoverse ist unbedingt empfehlenswert!

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