Game Review: Iron Harvest 1920+: Complete Edition für den PC – Hervorragendes Kampagnendesign für Dieselpunk-Fans

„Nach dem Ersten Weltkrieg fanden Bauern beim Pflügen ihrer Felder eine Fülle von nicht explodierten Kampfmitteln, Stacheldraht, Waffen, Granatsplittern und Kugeln. Sie nannten es Iron Harvest.“

2022 ein richtig gutes Echtzeitstrategie Spiel, das nicht auf einem klassischen Franchise beruht, zu finden ist meines Erachtens gar keine leichte Aufgabe. Ich weiß, steile These. Als aber Iron Harvest 1920+ im Herbst 2020 das Licht der Welt erblickte, sorgte das ästhetisch dem Dieselpunk verpflichtete Spiel für ein paar frische neue Impulse im Genre und erntete dafür auch diverse wohlverdiente Preise. Folgerichtig bekam das Ding ca. ein Jahr später eine Complete Edition spendiert, die neben dem PC auch ihren Einzug auf die PS5 und die Xbox Series S I X feierte. Im Rahmen dieser Review besprechen wir allerdings noch die erweiterte PC-Fassung.  Dabei eins direkt vorweg: Für mich ist Iron Harvest 1920+ vom Bremer Entwicklerstudio King Art die beste Singleplayer Erfahrung im RTS Genre seit langem.

Iron Harvest spielt in einer alternativen Weltgeschichte, bei der sich drei unterschiedliche Kriegsparteien kurz nach dem Ersten Weltkrieg bis aufs Mark bekämpfen. Die entsprechenden Fraktionen sind dabei natürlich an reale Staaten angelehnt. Das Spiel bedient sich allerdings der vom polnischen Künstlers Jakub Różalski geschaffenen, retro-futuristischen Alternativwelt „1920+“, die auch bereits dem erfolgreichen Brettspiel Scythe als Vorlage diente.

Beginnend mit dem Jahr 1920, spielt das Spiel kurz nach dem Ende eines „Großen Krieges“, der motivisch dem Ersten Weltkrieg ähnelt. Im Hauptspiel wählt man zwischen den drei fiktiven Nationen „Polania“, „Rusviet“ und „Saxony“, die sich gestalterisch und geschichtlich an Polen, dem russischen Zarenreich und dem Deutschen Kaiserreich orientieren. Diese haben einen brüchigen Waffenstillstand, der schon bald in einem neuen Krieg eskaliert. Das Add-on „Operation Eagle“ bringt mit der amerikanischen Union von Usonia eine weitere Fraktion ins Spiel. Diese ist, wie unschwer zu erkennen, angelehnt an die USA.

© King Art

Die Besonderheit des an Dieselpunk erinnernden Szenario ist, dass alle Nationen über verschiedenartig große Mechs, die sie neben normalen Einheiten in die Schlacht schicken können, verfügen. Der technologische Fortschritt zieht sich durch die gesamte Geschichte von Iron Harvest 1920+. Seien es gigantische Luftschiffe, Exoskelette oder eben die besagten Mechs. Panzer oder andere realen Fahrzeuge werden hier nicht zu Land oder zu Luft in die Schlacht geschickt.

Die Geschichte eines Krieges

Das Herzstück von Iron Harvest 1920+ ist eindeutig die Kampagne. Ja richtig gelesen, es ist nicht der klassische Skirmish Modus oder der Multiplayer, der mich lange bei Laune gehalten hat, sondern die drei bzw. mit der Erweiterung vier Kampagnen der sehr unterschiedlichen Fraktionen. Hier ist es vor allem wichtig, dass ihr linear der Geschichte folgt. Jede einzelne Kampagne ist miteinander verbunden und dabei bauen diese teilweise aufeinander auf.

Die Kampagnen zeichnen sich vor allem durch wundervoll geschriebene Dialoge (mit teils grausigen deutschen Sprechern) aus, einer wirklich spannend erzählten Geschichte mit Wendungen und einigen Überraschungen und eine Vielzahl von verschiedenen Aufgaben, die weit über den Standard hinaus gehen. Ein kleines Beispiel? Das Tutorial!

© King Art

Ich habe selten ein so liebevoll und abwechslungsreiches gestaltetes Tutorial erlebt wie in Iron Harvest. Die ersten Schritte im verschneiten Polania bestreiten wir mit der jungen Anna Kos, die später zur großen polanischen Heldin heranwächst. Um uns die grundlegenden Mechaniken beizubringen, vollziehen wir eine Schneeballschlacht zwischen Anna und einigen Jungs aus ihrem Heimatdorf. Wir lernen, wie man in Deckung geht, um nicht selbst von einem Schneeball getroffen zu werden, um dann aus dem Schutz einer Steinmauer hervorzuspringen und selbst einen Schneeball werfen. So wird uns auf eine charmante Art das hervorragende Deckungssystem und grundlegende Bewegungsmuster der Infanterie Einheiten beigebracht.

Gleichzeitig erfahren wir bereits einigen Hintergründe zu unserer Heldin, beispielsweise, dass sie selbst wohl keine polanischen Wurzeln hat. Kurz darauf gehen wir mit unserem Bruder auf die Jagd und lernen so nebenbei die Spezialfähigkeiten unserer Einheiten einzusetzen. Allein dieser kleine Abschnitt aus dem Tutorial zeigt, wie viel Hingabe und Liebe zum Detail in die Kampagnen geflossen sind.

Später im Verlauf der Kampagnen müssen wir eine Vielzahl von Aufgaben erledigen, die über das klassische „Vernichte hier eine Basis des Feindes“ herausgeht. Beispielsweise erbeuten wir einen Zug nebst der Iron Harvest Version des Zuggeschützes „Dicke Berta“, den wir später sogar selbst fahren und benutzen. Oder wir helfen Einwohnern per Luftschiff eines verrückten Wissenschaftlers, aus einer vom Krieg gebeutelten Stadt zu fliehen. Dann wechseln wir plötzlich die Seiten und spielen eine Agentin der Fraktion, die wir bis eben noch bekämpft haben.

Zusammengefasst: Die Kampagne hat es in sich. Viel Abwechslung, ein knackiger Schwierigkeitsgrad und eine spannende Geschichte runden das ganze zu einem vortrefflichen Erlebnis ab.

Ein schwerfälliger Riese der hübsch anzusehen ist

Iron Harvest sieht gut aus. Hier und da finden sich einige verschwommene Texturen, aber für ein RTS mit eher kleinem Entwicklerstudio dahinter sieht es wirklich ziemlich gut aus. Der Detailreichtum ist enorm, die Animationen flüssig und durchaus realistisch. Markige Explosionen, dröhnende Sounds und viel zerstörbare Umgebung zeichnen ein eindrucksvolles Bild vom Krieg in den abwechslungsreichen Gebieten der Welt.

Doch Iron Harvest ist mitnichten ein schnelles Echtzeitstrategie Spiel, bei dem sich große Armeen in gigantischen epischen Schlachten bekämpfen. Unsere Mechs laufen langsam, verdammt langsam. Sie bewegen sich schwerfällig über die Karte, reißen dabei Mauern und Gebäude ein und werden von unserer Infanterie gedeckt. Diese bewegen sich meist flink von Deckung zu Deckung, sind aber oftmals den übergroßen Kampfmaschinen ausgeliefert. Daher empfiehlt sich früh, eine gute Mischung aus Standardsoldaten, die kundschaften und andere Infanterie in Schach halten können sowie starker Artillerie, die andere Mechs aufs Korn nehmen.

Wer übrigens einen ausgeklügelten Basenbau wie in anderen Genrevertretern erwartet, wird bitter enttäuscht. Gerade einmal drei Gebäude für jede Fraktion und eine Handvoll Stellungen stehen zur Verfügung. Hinzu kommen Ölbohrtürme und Eisenminen, die in der Welt verteilt sind und für Rohstoffe unter Kontrolle gebracht werden müssen.

Es wird deutlich, dass Iron Harvest ein taktisches Strategiespiel sein will, das sich nicht lange mit Micomanagment einer Basis aufhalten will. Es geht um die Eroberung des Schlachtfeldes mit diversen Einheiten und der schnellen Zerstörung des Gegners. Was mitunter aber gar nicht so leicht ist, da es überall etwas zu tun gibt. Daher ist es eigentlich von Vorteil, dass der Basenbau klein ausfällt. Als Fan von Age of Empires oder auch dem ersten Warhammer 40k: Dawn of War hätte ich mir trotzdem ein paar mehr Gebäude gewünscht.

Die Scharmützel und das Fazit

Abseits der gelungenen Kampagne steht noch ein klassischer Skirmish und Multiplayer Modus zu Verfügung. Doch diese Modi enttäuschen. Iron Harvest lebt von seiner eindrucksvollen Inszenierung. Der guten Geschichten. Des abwechslungsreichen Missionsdesigns. Ohne all dies, was die Kampagne zu bieten hat, bleibt Iron Harvest ein durchschnittlicher RTS Titel mit interessantem Artwork. Doch die fehlende Tiefe beim Errichten einer Basis und den eigentlich immer gleich ablaufenden Partien lassen nur schwer eine Langzeitmotivation aufbauen. Wieso mich das in der Kampagne nicht gestört hat? Die Kampagne lebt von ihrer Vielfalt. Es gibt immer etwas Neues zu tun. Selten bekommen wir Aufträge vermittelt, die aus simplen „Vernichte alle gegnerischen Truppen“ bestehen. Auf Dauer sind die klasssichen Skimish Partien einfach sehr eintönig. Sie laufen meistens nach demselben Schema ab. Rekrutierung von ein paar Infanterie-Einheiten, um möglichst schnell Ölpumpen und Eisenminen einzunehmen. Ein wenig Rohstoffe sammeln, um die zwei weiteren Gebäude zu bauen, die es ermöglichen fortschrittlichen Einheiten und Mechs zu bauen. Danach zieht man mit einer bunten Mischung aus Infanterie und Mechs langsam in Richtung Basis des Gegners. Hat man einmal den Dreh raus und versteht das Zusammenspiel der einzelnen Einheiten, ist jede Partie flott beendet. Dabei ist die KI gar nicht mal schlecht. Gerade als Anfänger war es teilweise wirklich knifflig. Die Herausforderung ist durchaus da und bei den ersten Partien war ich auch noch motiviert. Doch mit der Zeit nimmt der Spielspaß und auch die Motivation hier durch die fehlende Abwechslung ab.

Iron Harvest 1920+ ist sicherlich kein Meisterwerk. Es gibt einiges das zu kritisieren ist. Die fehlende Langzeitmotivation abseits der Kampagne und die wenig abwechslungsreichen Multiplayer Matches machen es dem Spiel nicht einfach. Doch die Inszenierung der Kampagne hat mich persönlich über die Defizite hinwegschauen lassen. Selten hat mich eine Kampagne eines Echtzeitstrategie-Spiel so lange gefesselt. Die Geschichte, das Artwork und der bombastische Sound entwickeln die Kampagne zu einem echten Highlight.

Daher bleibe ich bei meinem Fazit, dass Iron Harvest 1920+ eines der besten Einzelspieler Erfahrungen seit langem ist. Für eine zwanglose Partie mit Freunden wechsel ich dann aber doch wieder zur Konkurrenz.

Bei Steam bestellen:

Iron Harvest 1920+

Iron Harvest 1920 + [PC]

GRAFIK - 7
TECHNIK - 7.5
UMFANG - 6
HANDLUNG - 9.5
GAMEPLAY - 7

7.4

Eindrucksvoller Vertreter der Echtzeitstrategie mit einer grandios inszenierten Kampagne, wundervollem Artwork, abwechslungsreicher Spielmechanik aber belanglosen Scharmützel Partien.

User Rating: Be the first one !