Buch Kritik: Bela B. Felsenheimer: Scharnow

Pulp Fiction in der brandenburgischen Provinz

1994 leitete Quentin Tarantino sein Kultwerk “Pulp Fiction” mit einer Definition des Begriffes “Pulp” aus dem American Heritage Dictionary ein. In der deutschen Fassung hieß es dazu:

“Schund: 1. Abfall, Ausschussware, Schmutz 2. Schund- und Schmutzliteratur, ästhetisch minderwertige und moralisch anstößige Geschichten in Heft- oder Buchform”

Dass  Ärzte-Schlagzeuger Bela B. Felsenheimer schon seit jeher ein Faible für das Abseitige hat, für Gruselcomics- Horrorfilme- Italowestern- Groschenromane und andere politisch unkorrekte Genrekost, dürfte ein offenes Geheimnis sein. Nicht zuletzt kooperierte der umtriebige Herr neben seiner Bandtätigkeit in den letzten Dekaden auch immer wieder mit Akteuren dieses kulturellen Milieus: Mit Extrem Erfolgreich Enterprises betrieb er bis 2006 etwa ein Comiclabel primär für Horrorcomics. Als Schauspieler drehte er mit Leuten wie Jörg Buttgereit (u.a. Nekromantik), Splatter-Künstler Olaf Ittenbach (in Garden of Love z.B.) und, hier können wir die Brücke zum Beginn schlagen, war mitunter auch mit einem Cameo in Tarantino’s Inglorious Basterds vertreten, den er zwei Jahre zuvor zu seinem Grindhouse-Feature Film Death Proof: Todessicher interviewt hatte. Kurzum: Es war bloß eine Frage der Zeit, bis Herr Felsenheimer unter die Schriftsteller geht und seine Liebe zur Schund- und Trivialliteratur auch in diesem Medium auf die Leser*Innen loslässt. Nun ist das Debüt da, “Scharnow” heißt das Ganze, und beinahe pflichtgemäß handelt es sich hierbei um eine irre Tour de Force, rauschhaft oszillierend zwischen allen Genretrademarks, haufenweise Popkultur-Referenzen, mit einem höchst heterogenen Figurentableau, spaßig und abgründig zugleich, und dabei alle rationalen Grenzen sprengend. “Scharnow” ist, Spoiler Alert, ganz großes Entertainment. Aber der Reihe nach:

“Scharnow ist über(all)”

Auf den ersten Blick ist Scharnow lediglich ein Stückchen dröge ostdeutsche Provinz, ein 4200-Seelen Dorf, nördlich von Berlin, in welchem scheinbar der Hund begraben liegt. Doch bereits die ersten Seiten des Romans lassen erahnen: Hinter der bürgerlichen Fassade vermeintlich klassischer Biografien – zwischen frustrierten Supermarktkassiererinnen, einsamen Literaturbloggern, Säufern, verkappten Neonazis, Otaku-Mädchen aus Berlin, Erotikdarstellern und gleichsam hoffnungsvollen wie desillusionierten Flüchtlingen – da brodelt etwas – da entpuppen sich Scharnow und die danebengelegene Kreisstadt Sahsenheim plötzlich als schicksalsträchtige Mikrokosmen. Dabei liefern just jene ersten Seiten auch gleich die Anleitung, um das Örtchen greifbar zu machen:  Eine Karte von Scharnow etwa, um den Ort geografisch greifbar zu machen.  Der Supermarkt “Billkauf”, Hakan’s Internetcafé, die nördlichen Siedlungen- in Opposition zur Plattenbausiedlung – Sie bilden das Gerüst für haufenweise verrückte Schnittpunkte ganz unterschiedlicher Schicksale – Und auch das ganze sechs Seiten umfassende Personenverzeichnis ist ein Indiz dafür, dass Scharnow gar nicht so langweilig ist, wie die geografische Verortung es zunächst vermuten lässt.

In seiner Plotstruktur ähnelt Scharnow dabei der David Lynch-Serie Twin Peaks: Das beginnt bereits beim abseitig gelegenen Dörfchen als eher assoziatives Haupthandlungszentrum und bei einem undurchschaubaren und weitläufigen Figurentableau, welches zunächst eher eine bürgerliche “Working Class”-Gesellschaft in den Vordergrund stellt. Gleichzeitig ist jede Figur mit einem eigenen Subplot unterfüttert und durchläuft gleichermaßen unvorhersehbare, dabei aber nie komplett abwegige Entwicklungsprozesse durch. Es gibt einige zentrale geografische Eckpunkte, wo die für sich unbekannten Charaktere  aufeinandertreffen. Was in Twin Peaks das Double R Diner ist, dürfte hier beispielsweise der Billkauf sein – Die schwarze Hütte in Twin Peaks findet hier ihre metaphysische Entsprechung in den sogenannten Seelenparkplätzen  – Und wie Twin Peaks hüpft Scharnow unbeirrt zwischen den Genres: Manchmal Krimi– manchmal Thriller, manchmal Seifenoper, ab und an beinharter Actionfilm und durchaus auch mal splattriger Horrorfilm.

Die einzelnen Handlungsstränge sind dabei relativ episodisch gehalten – In jedem Kapitel wechselt die Perspektive, letztlich läuft das Schicksal aller Protagonisten aber auf ein Ereignis X hinaus, bei dem bis zuletzt unklar bleibt, was da eigentlich konkret passiert. Hier fühlte ich mich vom Vibe her wiederum sehr an die Screwball-Fingerübung der Coen-Geschwister Burn After Reading erinnert.

Burn After Reading

Eingeleitet wird die Geschichte, und hier wird ein kleiner Metaebenen-Seitenhieb auf unsere Bloggerzunft geliefert, mit dem durchaus intelligenten, aber auch pendantischen Literaturblogger Ron Thorsten Wassmann, der von seinem Erbe lebt, welches ihm seine Tante hinterließ, und ansonsten lediglich einen durchaus einflussreichen Blog namens “Wassmanns Wisdom” betreibt. Um die Deadlines der Verlage einzuhalten, überfliegt er die Romane häufig bloß noch, um auf Basis des ersten Eindrucks eine Lobhudelei oder vernichtende Kritik abzuliefern – mitunter gegen Entgeld natürlich. Eines Tages trifft ein unbeschriftetes Päckchen bei ihm ein, das ein edel gebundenes Buch mit der Aufschrift “Horror Vacui” enthält (die Lateiner unter uns wissen: “Die Angst vor der Leere”, ein künstlerischer Griff, um Leerstellen in künstlerischen Werken zu meiden) – ohne Angabe von Verlag, Herausgeber oder Schriftsteller. Das mysteriöse Buch beginnt mit den Worten

“Kennen Sie das Gefühl, etwas an Ihrem Leben verändern zu müssen?”

Obschon Wassmann diese Einleitung als billigen literarischen Kunstgriff zu entlarven glaubt, scheint das Buch schon bald auf merkwürdige und durchaus tödliche Weise Besitz von ihm zu ergreifen – und er soll im Verlauf des Buches nicht der letzte sein. Dieser Prolog hat einerseits nicht sonderlich viel Einfluss auf den Rest der Handlung, aber er gibt die Marschrichtung vor.

Neben Wassmann haben wir einen Haufen anderer illustrer und verpeilter Figuren: Wassmann’s reizende Nachbarin etwa ist alleinerziehende Pornodarstellerin, deren beste Freundin Patty eine eitle Drag Queen mit einem durchaus brisantem Geheimnis ist. Ihr Töchterchen wiederum ist befreundet mit der Tochter vermeintlicher Neonazi-Eltern, die bloß aus seltsamen pädagogischen Gründen die rechte Fassade aufrechterhalten, und dabei Sozialleben und gesellschaftliche Anerkennung einbüßen. Der “Pakt der Glücklichen” wiederum ist eine Gruppe gesellschaftlicher Aussteiger, die eine gemeinsame Wohnung in der nördlichen Siedlung bewohnen und ihr Leben einem strengen Manifest unterworfen haben. Im Kern geht es um Gorefilme- Pornografie, Saufen und gegenseitigen Respekt – Eine weitere handlungsrelevante Fraktion ist der BsB, der Bund skeptischer Bürger – eine Gruppe von Veschwörungstheoretikern, die scheinbar den nicht ganz irdisschen Weltenlenkern auf der Spur sind und dabei auch vor gewalttätigen Anschlägen nicht haltmachen, um die vermeintliche Manipulation der Menscheheit einzudämmen.

Und zu guter Letzt taucht ein ominöser Superhelden-artiger Protagonist mit dunkler Vergangenheit auf, der die Welt in Atem hält –

In diesem Gemengelage bewegen sich das eher unbedarfte Berliner Manga-Mädchen Nami, die auf den syrischen Flüchtling Hamid trifft, und im Zuge dessen eine zarte Romanze erblüht, aber auch Erotiktänzer Peter Märse und die Supermarktkassiererin Sylvia Pathé, mit der es das Schicksal nicht gut gemeint hat und die im Verlauf der Handlung weitere tragische Verluste zu beklagen hat.

Man sieht: Es passiert unglaublich viel. Und Bela B. hat dabei eine erfrischend punkige Weise zu schreiben und dabei der starren Vernunft eine klare Absage zu erteilen. Das tolle am Buch ist – trotz aller hanebüchenen Charakterentwicklungen und Plotwendungen, die ins Fantastische und Surreale abdriften, bleibt der Kern erstaunlich geerdet: Einerseits ist Bela ein sehr detailversessener Beobachter seiner Gesellschaft, wir haben hier tatsächlich relative viele Archetypen unserer Gesellschaft, die in dieser Form durchaus existent sind – Gleichermaßen hat Bela B. einen Heidenspaß daran entwickelt, diese Archetypen zu dekonstruieren. Weder sind die Säufer hier ausschließlich primitive Asoziale, noch ist der Flüchtling hier einfach Flüchtling – und selbst die Neonazis sind hier nicht einfach Nazis. Die Figuren sind ambivalent gezeichnet und werden alle zu irgendeinem Zeitpunkt ironisch gebrochen, bekommen ihren Heldenmoment. Es ist fast schon eine sehr wohlwollende Idee von der Menschheit – und das finde ich herrlich erfrischend.

Denn gleichermaßen gibt es hier auch einige Tote zu beklagen, es warden sexuelle Übergriffe thematisiert, soziale Verwahrlosunginterkulturelle Hürden, sinnstiftende Menschenfeindlichkeit – und diese Abgründe haben immer auch einen gewissen emotionalen Punch. Aber sie ufern nicht aus, sondern werden durch einen optimistischen und klamaukigen Humor konterkariert.

Man merkt, wieviel Herzblut in dieses Projekt geflossen ist und wie sehr die Figuren Bela ans Herz gewachsen sind. Und auch mir hat dieser wilde Parforceritt außerordentlich viel Spaß gemacht, nicht zuletzt durch die vielen Referenzen: Da werden kleine Exkurse auf italienische Splatterfilme- und Exploitationflicks geliefert – Der unscheinbare Superheld Trotsky ist eine Art Watchmenesquer Dr. Manhattan, der sich zunehmend von der Menschheit entfremdet, die Cops agieren hier auch mal ahnungslos aber selbstherrlich nach klassischer Dirty Harry-Manier und zwischenzeitlich gibt es auch mal eine Episode aus der Sicht eines homosexuellen Eichhörnchen-Paares.

Die Nutzung der Sprache ist im Großen und Ganzen nicht sonderlich kunstvoll oder hochtrabend literarisch ausgestaltet, aber auf der anderen Seite schüttelt Bela die Stories recht locker aus dem Ärmel – beinahe so, als würde er dir einen Pitch für ein Projekt bei einem Bierchen vorstellen. Die Sprache ist simpel, hat aber was sehr filmisches an sich. Natürlich sind einige Episoden vernachlässigbarer als andere, Die dezent surreale Eichhörnchen-Story etwa hat mir nichts gegeben, und natürlich sind einige sprachliche Konstrukte auch ein wenig redundant geraten. Nichtsdestotrotz hat Scharnow was sehr schön unprätentiöses an sich – Man merkt einfach, dass das Ding kein selbstzweckhaft zusammengeschustertes Promi-Ego-Projekt ist, sondern einfach ein weiteres künstlerisches Ventil für Herrn Felsenheimer. Und das macht Laune. Wie es auf (negative) Weise anders geht, zeigt ganz aktuell “Aus dem Dachsbau” vom Tocotronic-Barden Dirk von Lotzow.

Fazit:

Scharnow ist skurrill. Scharnow ist abgründig. Scharnow gibt keinen Fick. Bela B. hat hier als Schriftsteller offenbar absolute Narrenfreiheit genossen. Seine Liebe zu Comics- und B-Movies zieht sich durch das ganze Ding hindurch. Gleichermaßen ist er aber auch pointierter und kluger Beobachter, der die Empfindlichkeiten deutscher Provinzbiografien in seinen wahnwitzigen Stories persifliert, ohne die Figuren dabei der Lächerlichkeit vorzuführen. Scharnow ist wie ein klamaukigeres, deutsches Twin Peaks – Häufig ein bisschen doof, manchmal grenzgenial. Manchmal albern, punktuell auch tragisch. Durch das Buch zieht sich ein hoffnungsvoller Feel Good-Tenor, obwohl Bela auch vor beinahe pornografischen- und extrem gewalttätigen Sequenzen nicht zurückschreckt. Die Erzählweise beruht natürlich auf der Montagetechnik, das ist nicht sonderlich innovativ, durch die Dynamik der Ereignisse bekommt das ganze Ding aber einen sehr filmischen Charakter. Es ist schön, dass Bela seinen Bekanntheitsgrad ausschließlich dafür nutzt, tatsächlich die künstlerischen Grenzen des Verlagsprogramms auszureizen. Scharnow macht nicht zuletzt durch die unprätentiöse Herangehensweise sehr viel Spaß.

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Bela B. – Scharnow [Gebundene Ausgabe]

Gebundene Ausgabe: 416 Seiten

Verlag: Heyne Verlag; Auflage: Originalausgabe (25. Februar 2019)

Sprache: Deutsch

ISBN-10: 345327136X

ISBN-13: 978-3453271364

Scharnow

STORY - 7.5
CHARAKTERTIEFE - 8
ERZÄHLWEISE - 7
UNTERHALTUNGSFAKTOR - 9
SCHREIBSTIL - 6.5

7.6

Scharnow ist skurrill. Scharnow ist abgründig. Scharnow gibt keinen Fick. Belas Liebe zu Comics und B-Movies zieht sich durch das ganze Ding und macht einen Heidenspaß.

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