Im Kontext der Comic Con International 2019 im kalifornischen San Diego wurde der Horror/Mystery-Comic Gideon Falls von Jeff Lemire und Andrea Sorrentino mit dem prestigeträchtigen Will Eisner Preis für die „Beste Neue Serie“ bedacht – Der Kanadier Jeff Lemire ist für mich einer dieser Autoren, die Star-Potential haben und deren Name alleine Verkaufsargument für einen Comic ist: Gekriegt hatte er mich in erster Linie mit seiner Sweet Tooth-Reihe, die zwischen 2009 und 2013 für Vertigo erschien – Die Road Movie-artig angelegte postapokalyptische Parabel drehte sich um den Tier-Mensch Hybrid Gus, der nach dem Tod seines Vaters in eine unwirtliche und feindliche Welt aufbricht – Lemire, der ursprünglich im Filmbereich ausgebildet worden ist, hat eine recht filmische Form der Narration gewählt, um eine ganz eigene beklemmende Vision der Welt zu zeichnen – die aber dennoch von einer bitter-süßen humanistischen Weltanschauung geprägt ist. Ich widmete mich schließlich auch den anderen Werken in Lemires Oeuvre wie der ebenso schwermütigen zeit- und weltenübergreifenden Sci-Fi Lovestory „Trillium“ oder die stilisierte Abhandlung über Identität und Paranoia „The Nobody“, die ebenfalls über das Vertigo-Imprint erschienen ist – Kurzum: Ich wurde zum Fan. Mit dem ersten Band der „Gideon Falls“-Serie, der auf den Titel „Die Schwarze Scheune“ hört, erfuhr die über den Bielefelder Splitter Verlag herausgegebene Ausgabe im Mai 2019 (Release: 22.05.2019) erstmalig eine deutschsprachige Auswertung. Damit mauserte sich der Splitter Verlag wohl endgültig zur teutonischen Verlagsheimat für Lemire, nachdem die Jungs und Mädels sich bereits Decender und Black Hammer geschnappt haben. Ob die Horrorserie ihrem Award gerecht wird, soll im Rahmen dieser Review geklärt werden.
ZWEI SCHICKSALE UND EINE UNHEILVOLLE LEGENDE
Gideon Falls dreht sich um das Schicksal zweier Männer, die auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam haben: Norton ist ein maskierter Eigenbrötler mit einer scheinbar recht vagen Vergangenheit, dessen Handlungsweisen vermeintlich von einer Reihe von neurotischen bis psychotischen Zügen gekennzeichnet sind. Seine wohlwollende Therapeutin Dr. Angie Xu vermutet eine paranoide Schizophrenie bei dem undurchsichtigen Mann und erwägt eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik. So durchstreift er eine nicht näher benannte Großstadt nach Müll – Er sammelt und katalogisiert scheinbar willkürliche Objekte wie rostige Nägel, Holzspäne und ähnliche Dinge umfassend nach Fundort- Datum. Schon seit seiner Kindheit verfolgt ihn der Traum einer schwarzen Scheune, die er immer wieder manisch skizziert. In den Dingen, die er sammelt, glaubt er einen Zugang oder wenigstens eine tiefere Erkenntnis zu diesem Traum zu finden. In der Annahme, dass von der Scheune etwas Böses ausgeht, isoliert Norton sich und verschanzt sich in seiner Wohnung.
Auf der anderen Seite haben wir den katholischen Pfarrer Wilfred, der offenbar eine Alkoholiker-Vergangenheit im Nacken hat und in seinen vormaligen Gemeinden in Ungnade gefallen ist: Er wurde vom Bischof unfreiwilligerweise in die „nette, ruhige“ Kleinstadt Gideon Falls versetzt, wo er offenbar gebraucht werde, nachdem Pater Tom Chesley unter nicht näher bekannten Umständen verstorben ist. Doch seine Ankunft bringt Unruhe – denn sie wird begleitet von einem Mord an der Leiterin der katholischen Frauenvereinigung Gene Tremblay, einer schrulligen, alten Dame. Tatsächlich ist es auch Wilfred selbst, der den grausam zugerichteten Leichnam der betagten Frau findet, nachdem er nachts aufwacht, weil eine dämonische Form von Pfarrer Tom in aus dem Bett, nach draußen in die Felder lockt – dort schließlich begegnet Wilfred silhouettenhaft der schwarzen Scheune erstmalig. Doch es scheint klar, dass die Cops unter Leitung von Clara Miller einer solchen absurden Story keinen Glauben schenken werden, und so wird Wilfred vorerst auf die Verdächtigen Liste gesetzt.
Ebenso ersichtlich wird allerdings, dass die Schwarze Scheune allerdings kein reines Hirngespinst, sondern vielmehr eine unheilvolle Provinzlegende ist, welche die Dekaden zu überdauern scheint. Winfred wird von Dr. Sutton kontaktiert, seines Zeichens Arzt- Chronist von Gideon Falls- Vater der ermittelnden Polizeichefin und ein Mitglied der sogenannten Ackermänner – einem Zusammenschluss einflussreicher Männer im Ort, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts formiert haben, um der Finsternis der Scheune entgegenzutreten. Die Ereignisse überschlagen, als einer der Ackermänner mörderische Triebe entwickelt und in eine Tat verwickelt wird, die zwei Tote fordert. Diese beiden Handlungsstränge werden als Prämisse für das fortlaufende Epos gesetzt.
AUFBAU UND FIGURENZEICHNUNG
Was Jeff Lemire vor allem kann sind glaubwürdige Figuren – Sowohl Wilfred als auch Norman wirken trotz ihrer individuellen Schicksale sehr nahbar – gerade mit Blick auf deren Isolation: Wilfred primär in seiner räumlichen Isolation in Gideon Falls, Norton in seiner sozial-psychischen Festung. Auch die Interaktionen mit den Nebenfiguren fühlen sich, obgleich recht wortkarg und stoisch gehalten, durchaus organisch an. Als lokaler Pastor ist Wilfred recht schnell in den kleinstädtischen Figurenkanon eingebettet – hier ist natürlich die Beziehung zur Gemeinde, aber im Speziellen das Verhältnis zu Clara Miller wichtig – Kontrastiert wird die ländliche (Un)gemütlichkeit mit der destruktiven Anonymität der Großstadt, in der Norman ungeachtet von der Gesellschaft seinen Neurosen unterworfen ist. Aber auch hier bekommt er von Lemire einen Kompagnon zur Seite gestellt: Die an sich vernunftgeeichte Psychologin Xu schlittert in seine Welt hinein und wird faktisch Zeugin des Paranormalen.
Allerdings lässt sich Lemire recht viel Zeit, um die Gegensätzlichkeit der beiden Protagonisten zu verdeutlichen: Das Pacing ist hier sehr langsam, beinahe etwas langatmig – spannungsgeladen ist der Einstieg daher erst auf den letzten Seiten und endet dann mit einem fiesen Cliffhanger. Was vielleicht ebenso abschrecken kann: Ein wortkarger vom Weg abgekommener Pastor in der Kleinstadt ist jetzt keine sonderlich innovative Figur, ebenso der isolierte Psychotiker. Allerdings mag ich den Stephen King-artigen Einschlag der Geschichte: Die urbane Legende, die jeder kennt, und hinter der etwas abstrakt omnipotent Böses steckt. Das erinnert ein wenig an ES in der Kleinstadt Derry oder Leland Gaunt aus Needfull Things. Gleichermaßen erinnert die schwarze Scheune auch an die sogenannte „Schwarze Hütte“ in Twin Peaks, ein surrealer Ort, jenseits von Zeit und Raum, an dem sich das Böse kulminiert. Und auch bei den sogenannten Ackermännern scheint Lemire sich bei David Lynchs surrealer TV-Mysteryserie bedient zu haben: Dort gibt es die sogenannten „Bookhouse Boys“, die sich gegen die Finsternis in und um die Kleinstadt Twin Peaks stellen.
Die ländlichen Provinzen der USA haben mich schon immer fasziniert und haben was sehr Mythisches an sich: Es ist auch ein Topos, das medial immer wieder aufgegriffen wird. So auch hier – und trotz der besagten langatmigen Passagen hat man mich angefixt, zumal ich glaube, dass man sich hier noch von den bisher dominierenden Archetypen emanzipieren wird.
BILDGEWALTIG
Denn gerade der zwischen Lynch und Stephen King oszillierende Horror- als auch die Kontraste zwischen Stadt und Land werden visuell überragend von dem körnigen Stil des Italieners Andrea Sorrentino rübergebracht, der mit Lemire zusammen bereits an Old Man Logan gearbeitet hat (nicht zu verwechseln mit Wolverine: Old Man Logan von Mark Millar). Wir haben einen stilisierten Look mit scharf geschnittenen Strichen, harten Kontrasten und immer wieder eher schmutzig-erdigen Partikeln. Die Charakterdesigns sind realistisch-kantig, versehen mit Frank Miller-artigen Schattierungen. Das alles passt sehr zum beklemmenden Charakter der Erzählung – sonderlich gory für eine Horrorstory wird es hingegen nicht. Der mysteriöse Charakter steht im Vordergrund. Die hektisch- gleichermaßen feine wie harte Strichführung bei den Bebilderungen der Schwarzen Scheune wirkt ebenso creepy wie monumental. Und gerade dann, wenn es ins Innere der Scheune geht, werden alle visuellen Grenzen gesprengt. Experimentelle Panelführung, die sich häufig in die Vertikale orientiert korrespondieren mit den Kolorierungen von Dave Stewart, die sehr stark auf Rot-Schwarz Kontraste und eine tendenziell herbstlich-erdige Farbpalette setzen. Gerade die visuelle Opulenz des Einstiegbandes trägt das ganze Ding in erheblichem Maße und macht Lust auf die erzählerische Öffnung des Universums.
Fazit:
Jeff Lemire, Andrea Sorrentino- und Dave Stewart haben definitiv Dreamteam-Qualitäten: Der erste Sammelband von Gideon Falls zeichnet sich vor allem durch seine visuelle Opulenz aus. Harte Kontraste, scharf geschwungene Linien- spartanische, aber atmosphärische Farbgebung setzen eine sperrig-düstere Atmosphäre. Die Bedächtigkeit der Narration hat das Potential, sich in weiteren Bänden großzügig zu entfalten, wirkt beim Einstieg aber partiell noch ein wenig zäh – gerade, weil Pastor und vermeintlich schizoider Eigenbrötler schon vielgesehene Genrearchetypen sind. Allerdings hat Lemire schon immer ein Händchen für glaubwürdige Figuren gehabt, und so können sowohl Wilfred als auch Norton trotz aller klischeebeladenen Dispositionen als Protagonisten überzeugen. Gerade der Wechsel zwischen Twin Peaks-/King’hafter Kleindstadtatmosphäre und kafkaeskem Großstadtalptraum machen hier den Reiz aus – Ich freue mich bereits auf den zweiten Sammelband, der im September erscheinen wird.
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Gideon Falls Bd. 1 – Die Schwarze Scheune
ISBN 396-219-2840
Umfang: 160 Seiten, farbig
Maße: 20,2 x 2 x 28,1 cm
Hardcover
Preis: EUR 24,00, erschienen bei Splitter Verlag
Gideon Falls - Band 1
STORY - 8.4
DRAMATURGIE - 7.1
ZEICHNUNGEN - 9.5
LETTERING - 9
AUFMACHUNG - 9
8.6
Bildgewaltig. Vertrackt. Düster. Gideon Falls ist ein Horror Kleinod.