Comic Review: Anke Feuchtenberger: Genossin Kuckuck – Ein deutsches Tier im deutschen Wald

Über 14 Jahre lang hat Anke Feuchtenberger, zunächst unter dem Arbeitstitel „Ein deutsches Tier im deutschen Wald“, an Genossin Kuckuck gearbeitet. Partiell erschienen Kapitel in Anthologien, bis sie schließlich, in die Gesamthandlung eingewoben, im Herbst 2023 bei Reprodukt als knapp 450 Seiten starkes Werk herausgebracht wurden. Genossin Kuckuck besteht aus 40 Kapiteln, die mal chronologisch, mal mit märchenhaften Exkursen, vom Leben und Umfeld der Protagonistin Kerstin zwischen den 1960er Jahren und kurz nach der Wende 1989 erzählen.

Umkreisung des Topos „Mutter“

Kerstin wächst zusammen mit ihrem Bruder Jochen bei ihrer Großmutter, der Russischlehrerin der Dorfschule, auf, da ihre Eltern sich vollständig dem „Aufbau des Kommunismus“ widmen. Weitere Bezugspersonen für Kerstin sind vor allem ihre Freundin Effi und deren Mutter Rosi, zu der auch ihr Bruder Jochen eine immer nur beiläufig erwähnte Beziehung hat. Am Rande tauchen auch Effis Vater „Der Jäger“ auf, Opi Grund „der Veteran“, Jochens Freund Frank und weitere Person aus dem Dorf und im (Kinder-) Heim. Dazwischen fädeln sich Geschichten mit Tieren und anthropomorphen Tierwesen ein. Diese dienen Mal als Stellvertreter für eine Person oder sind die Akteur:innen eines Märchens oder einer Fabel, moralische Fragen diskutierend („Wann darf eine Mutter ihr Kind verlassen?).

Genossin_Kuckuck_Beziehungen

Kerstin und ihre Mitmenschen wirken mitunter schwer greifbar und vage, was die diffus bedrohliche Tonalität des Werkes verstärkt @ Reprodukt @ Anke Feuchtenberger

In ihrem Interview zum Buch mit rbb Kultur[1] beschreibt Feuchtenberger die Handlung selbst als Umkreisung zum Thema Mutter, die den Aufbau der Erzählungen auch für mich am treffendsten beschreibt. Im Verlauf erfahren die Leser:innen häppchenweise, wie es mit den Figuren weitergeht. Aber selbst bei Kerstin verläuft Vieles im Hintergrund oder wird vollkommen offengelassen. Dabei wird das Hauptmotiv „Mutter“ auf verschiedene Weisen und aus verschiedenen Perspektiven aufgegriffen. Die Figuren sind alle moralisch eher grau und nur sehr vage in Kategorien einzuteilen. Ein Beispiel ist Effis Mutter, die von Kerstin als äußerst positiv aufgefasst wird, aber keine besonders gute Beziehung zu ihrer leiblichen Tochter Effi führt.

Auch vor schwierigen Themen wird in „Genossin Kuckuck“ nicht zurückgeschreckt, dann aber häufig verklausuliert und symbolisch aufgeladen

Auch vor schwierigen Themen wie Missbrauch wird in „Genossin Kuckuck“ nicht zurückgeschreckt. Aus Kerstins Perspektive erzählt, werden die Geschehnisse nicht eingeordnet und aufgearbeitet, sie passieren einfach und man wird mitgenommen. Naturmotive deuten an, was tatsächlich passiert sein könnte. Generell nehmen Naturmotive einen großen Platz im Werk ein. Pilzen, Flechten und Schwämme wuchern in Ecken oder übergroß im Wald; Köpfe werden durch Pilze ersetzt, die dann sehr an die Clicker auf The Last of Us erinnern.

Verortung im ländlichen Ostdeutschland

Die Verortung des Buchs im ländlichen Ostdeutschland vor der Wende macht sich immer wieder bemerkbar. In der Schule wird Russisch gelernt und eine Lenin-Skulptur verehrt, News zu aktuellen Ereignissen der DDR werden im Radio gespielt.

In anderen Rezensionen der Graphic Novel wird oft von autobiografischen Elementen gesprochen. Glaubt man aber dem Ende des Buchs, sind „die in diesem Buch auftauchenden Personen und Handlungen […] erfunden“.

Das Bild steht vor dem Text

Das Buch stellt allein schon durch seine Aufteilung das Bild wesentlich mehr in den Vordergrund als den Text. Dabei ist es dennoch deutlich mehr klassische Graphic Novel als beispielweise Feuchtenbergers Umsetzung von Katrin de Vries Texten in „Die hure h“, das zu weiten Teilen wie eine Bildergeschichte erzählt wird. In „Genossin Kuckuck“ haben wir hingegen Kapitel mit Sprechblasen, mit Einleitungstext, mit Bildüberschriften oder vollständig ohne begleitenden Text.

Die Zeichnungen sind größtenteils schwarz-weiß mit wenigen komplett roten Kapiteln oder Seiten mit roten Konturen. Meistens handelt es sich um kontraststarke und detailreiche Kohle- und Bleistiftzeichnungen. Besonders die Darstellungen von Natur und Tieren sind mit großem Realismus wiedergegeben, wie etwa Abbildungen von Vögeln, einer Ziege oder den immer wieder auftauchenden Schnecken. Viele Freiflächen gibt es nicht. In der Regel haben auch die weiße Wand oder der Nachthimmel eine Schraffur. Besonders hervorzuheben ist, wie abwechslungsreich die Bildfolgen sind. Die Perspektive wird ständig gewechselt.

Genossin_Kuckuck_Tiere

Gerade die Tierdarstellungen und die Naturmetaphorik wirken gleichermaßen realistisch… @ Reprodukt @ Anke Feuchtenberger

Genossin_Kuckuck_Schnecken

… und gleichermaßen surreal grauenhaft @ Reprodukt @ Anke Feuchtenberger

Die Schriftart der Texte wurde von Feuchtenberger im Studium entwickelt. Sie mischt klassische Groß- und Kleinbuchstaben, gibt dem E einen zusätzlichen Strich und dem a eine besondere Neigung. Die Schriftart verlangsamt den Lesefluss, sonders wenn man sich anfangs noch nicht daran gewöhnt hat.

Wertige Erscheinung

Genossin Kuckuck ist als Hardcover mit Goldfolienprägung und Goldschnitt (goldene Seitenränder) erschienen. Das matte Schwarz gibt einen schönen Kontrast zur glänzenden Prägung und verleiht dem Buch eine sehr wertige Erscheinung. Positiv finde ich auch persönlich, dass der Einband direkt bedruckt ist, und es keinen Schutzumschlag gibt. Hier hat Reprodukt als Verlag ganz tolle Arbeit geleistet.

Fazit:

Mich konnte Genossin Kuckuck überzeugen. Man kann sich sehr gut in der doch schon eher düsteren Bildwelt verlieren. Das Buch ist voller aufwendiger, detaillierter Zeichnungen. Ich mochte auch die Stilwechsel zwischen einzelnen Kapiteln. Ich finde es auch schön, dass das Setting Ostdeutschland immer mehr Einzug in die Literatur findet. Als im ländlichen Rheinland-Pfalz nach der Wende geborene Person sind meine Anknüpfungspunkte rar gesät, dabei handelt es sich um so nahe Geschichte.

Für mich ein herausragender Punkt: Ein zweites Lesen des Buchs lohnt sich! Eine wichtige offene Frage „Wer hat Großmutters Fotoalbum, das für Kerstin bestimmt war?“ konnte ich durch erneutes Anschauen klären und wer weiß, was einem beim dritten oder vierten Aufschlagen der Seiten noch auffallen wird. Für Fans von anspruchsvolleren Graphic Novels wie zum Beispiel Grenzenlos von Jillian Tamaki oder den Werken von Lukas Jüliger (übrigens ein Schüler Feuchtenbergers!) werden hier auch auf ihre Kosten kommen. Wer sich der Gattung erst annähern möchte, sollte vielleicht den Einstieg über stringentere Erzählungen wie Marjane Satrapis Persepolis nehmen. Ansonsten eignet sich Genossin Kuckuck sicherlich gut als Weihnachtsgeschenk für Kenner:innen und Freund:innen von kunstvollen, eher bild- als textlastigen Narrativen.

Wir werden uns in den kommenden Wochen noch weiter mit Anke Feuchtenberger beschäftigen. Folgt uns gern auf unseren Social-Media-Kanälen, um keine Beiträge dazu zu verpassen!

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Genossin Kuckuck

ISBN 978-3-95640-346-0

Umfang: 480 Seiten, zweifarbig

Maße: 17.7 x 3.4 x 24.1 cm

Hardcover, Buch mit Goldschnitt, Goldfolienprägung, Blindprägung und Etikett

Preis: 44,00 EUR, erschienen bei Reprodukt

Quellenangaben:

[1] https://www.rbb-online.de/rbbkultur/radio/programm/schema/sendungen/der_tag/archiv/20230921_1600/gast_im_studio_1710.html

Genossin Kuckuck

Story bzw. Handlungsgerüst - 8
Charaktere bzw. Archetypen - 8
Illustration - 9.2
Umfang - 9

8.6

Genossin Kuckuck ist ein rätselhaftes und anspruchsvolles Werk, das künstlerisch und erzählerisch kantig und unbequem daherkommt, aber mit seiner irgendwie diffusen Coming-of-Age Geschichte und den bedrohlich-schönen Naturmotiven eine unglaubliche Sogwirkung entfaltet.

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